Robert F. Kennedy Jr. hat im September 2025 Videospiele als mögliche Ursache für Amokläufe ins Spiel gebracht und damit eine Debatte wiederbelebt, die Deutschland bereits vor Jahren durchlebt und überwunden hat. Ein Rückblick auf die Killerspiel-Kontroverse zeigt: Die Argumente sind dieselben, der wissenschaftliche Konsens eindeutig.
RFK Jr. reaktiviert die Ballerspiel-Diskussion in den USA
Am 9. September 2025 sorgte US-Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. für Aufsehen, als er bei einer Pressekonferenz der „Make America Healthy Again Commission“ Videospiele als mögliche Mitverursacher von Amokläufen nannte. „There could be connections with video games, with social media. There are a number of things, and we are looking at that at [the National Institute of Health]“, erklärte Kennedy vor der Presse.
Seine Argumentation folgt einem bekannten Muster: Kennedy verwies darauf, dass die Schweiz eine vergleichbare Anzahl an Waffen besitze wie die USA, aber seit 23 Jahren keinen Amoklauf mehr erlebt habe, während in Amerika alle 23 Stunden ein Amoklauf stattfinde. Als mögliche Erklärungen nannte er neben Videospielen auch psychiatrische Medikamente und soziale Medien.
Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Kritiker warfen Kennedy vor, eine längst widerlegte Theorie zu recyceln und dabei wissenschaftliche Erkenntnisse zu ignorieren. Journalist Matthew Cardenas schrieb auf Twitter: „Ich bin 28 Jahre alt und habe Spiele wie Call of Duty, Halo und Gears of War seit meiner Jugend gespielt. Nicht einmal haben mich diese Videospiele motiviert, einen Amoklauf zu begehen. Das ist ein so fauler Argumentationsansatz.“
Déjà-vu: Die deutsche Killerspiel-Debatte der 2000er Jahre
Kennedys Aussagen erinnern frappierend an die deutsche „Killerspiel-Debatte“, die vor über 20 Jahren die Gemüter erhitzte. Der Begriff „Killerspiele“ wurde 1999 durch den damaligen bayerischen Innenminister Günther Beckstein geprägt und nach Amokläufen wie in Erfurt (2002), Emsdetten (2006) oder Winnenden (2009) immer wieder aufgegriffen.
Besonders nach dem Erfurter Amoklauf geriet der Taktik-Shooter „Counter-Strike“ ins Visier der Politik, da der Täter Robert S. das Spiel besessen hatte. Die mediale Berichterstattung konzentrierte sich auf brutale Szenen aus Ego-Shootern, und Politiker forderten Verbote sogenannter „Killerspiele“.
Die Mechanismen der Debatte
Die deutsche Erfahrung zeigt, wie sich solche Debatten typischerweise entwickeln:
- Vereinfachung komplexer Ursachen: Nach einem Amoklauf wird nach einfachen Erklärungen gesucht
- Mediale Zuspitzung: Besonders brutale Spielszenen werden hervorgehoben
- Politischer Aktionismus: Verbotsforderungen werden laut, um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren
- Ignorieren der Wissenschaft: Forschungsergebnisse werden ausgeblendet oder relativiert
Wie ein Forendiskutant 2016 treffend kommentierte: „Jedes Mal, wenn diese Politiker in Erklärungsnot und hilflos sind, weil es keine einfache Erklärung gibt, wird diese mediale Sau durchs Dorf getrieben, um die Wähler abzulenken und Aktionismus vorzutäuschen.“
Was die Wissenschaft wirklich sagt
Sowohl in Deutschland als auch international ist der Forschungsstand eindeutig: Es gibt keine Kausalverbindung zwischen Videospielen und realer Gewalt.
Internationale Forschungsergebnisse
Die American Psychological Association bezeichnete 2019 Videospiele als „red herring“ – einen falschen Fährte, die von den tatsächlichen Ursachen von Gewalt ablenkt. Eine besonders aufschlussreiche Studie analysierte über 200.000 Nachrichtenartikel zu 204 Amokläufen über einen Zeitraum von 40 Jahren. Das Ergebnis: Videospiele wurden achtmal häufiger als Ursache genannt, wenn der Täter ein weißer Mann war, als bei anderen Tätergruppen.
David Dupee von der Stanford University untersuchte mit seinem Team 82 medizinische Forschungsartikel zum Thema Videospiele und Gewalt. Sein Fazit: „Es gibt eine Menge Arbeit, die sich mit Korrelationen beschäftigt, aber jeder mit grundlegenden Statistikkenntnissen weiß, dass Korrelation und Kausalität zwei völlig verschiedene Dinge sind.“
Deutsche Medienpädagogik: Das multifaktorielle Modell
Deutsche Experten entwickelten bereits früh ein differenziertes Verständnis für die Ursachen von Amokläufen. Andreas Pauly, Medienpädagoge, erklärt das sogenannte „multifaktorielle Erklärungsmodell“:
„Ein Amoklauf ist eine Form von Selbstmord und hat deswegen immer mehrere Gründe, die zusammenkommen. Da gibt es schon im Vorfeld eine Gewalterfahrung, die das Kind gemacht hat. Vielleicht hat es auch suizidale Gedanken. Es hat wenig Macht und wenig Selbstwirksamkeitsgefühl erlebt. Und dann kommen diese Spiele hinzu, die ihm vielleicht das positive Gefühl vermitteln: Hier habe ich Macht.“
Dieses Modell zeigt: Videospiele können höchstens ein verstärkender Faktor sein, niemals aber die alleinige oder hauptsächliche Ursache für Gewalt.
Warum die Debatte immer wieder aufkeimt
Psychologische Faktoren
Die Ballerspiel-Diskussion erfüllt mehrere psychologische Bedürfnisse:
- Sündenbock-Mechanismus: Nach traumatischen Ereignissen suchen Menschen nach einfachen Erklärungen
- Kontrolle-Illusion: Verbote vermitteln das Gefühl, man könne das Problem lösen
- Fremdheitsgefühl: Ältere Generationen verstehen oft nicht, was junge Menschen an Videospielen fasziniert
Politische Dimension
Für Politiker bieten Videospiele einen verlockenden Sündenbock: Sie können scheinbar entschlossen handeln, ohne die komplexeren und kontroverseren Ursachen von Gewalt anzugehen – wie Waffengesetze, soziale Ungleichheit oder psychische Gesundheitsversorgung.
Internationale Perspektive: Warum andere Länder weniger Probleme haben
Kennedys Verweis auf die Schweiz ist durchaus berechtigt – aber nicht in der Art, wie er ihn verwendet. Die Schweiz hat tatsächlich eine hohe Waffendichte, aber deutlich strengere Regulierungen:
- Umfassende Hintergrundprüfungen
- Registrierungspflicht für alle Waffen
- Verbot des öffentlichen Tragens von Waffen
- Keine Munitionslagerung zu Hause in größeren Mengen
Gleichzeitig sind Videospiele in der Schweiz genauso verfügbar wie in den USA. Das Gleiche gilt für andere europäische Länder: Überall werden dieselben Spiele gespielt, aber nur in den USA gibt es regelmäßige Amokläufe.
Die Gaming-Community wehrt sich
Deutsche Gamer entwickelten bereits in den 2000er Jahren Strategien, um gegen die Stigmatisierung vorzugehen. Matthias Dittmayer aus Bremen wurde bekannt durch seine detaillierten Analysen von TV-Berichten über „Killerspiele“, in denen er Falschdarstellungen und manipulative Berichterstattung aufdeckte.
„Es gibt keinen Zusammenhang zwischen den Spielen und der Einstellung zu realer Gewalt“, betonte der angehende Jurist damals – er sei im richtigen Leben friedfertig und habe gegen den Irak-Krieg demonstriert.
Moderne Argumente der Gaming-Szene
Heute argumentieren Gamer noch differenzierter:
- Statistische Evidenz: Millionen Menschen spielen täglich Shooter, ohne gewalttätig zu werden
- Internationale Vergleiche: Andere Länder haben dieselben Spiele, aber weniger Gewalt
- Positive Effekte: Studien zeigen, dass Videospiele Stress abbauen und soziale Fähigkeiten fördern können
Regulierung vs. Verbot: Was funktioniert wirklich
Deutschland entwickelte statt Verboten ein differenziertes Regulierungssystem:
Das deutsche Modell
- Alterskennzeichnung durch die USK: Spiele werden nach Altersgruppen klassifiziert
- Jugendschutz: Gewalthaltige Spiele sind für Minderjährige nicht zugänglich
- Indizierung: Besonders problematische Inhalte werden von der Bundesprüfstelle indiziert
Dieses System hat sich bewährt: Es schützt Jugendliche, ohne erwachsene Spieler zu bevormunden.
Internationale Best Practices
Erfolgreiche Ansätze konzentrieren sich auf:
- Präventionsarbeit: Frühe Intervention bei gefährdeten Jugendlichen
- Medienkompetenz: Aufklärung über verantwortlichen Medienkonsum
- Ursachenbekämpfung: Verbesserung der psychischen Gesundheitsversorgung
Ausblick: Wohin führt die neue US-Debatte?
RFK Jr.s Ankündigung, das NIH solle Studien zu Videospielen und Gewalt durchführen, ist problematisch, da diese Forschung bereits umfassend existiert. Es besteht die Gefahr, dass selektiv nach Belegen für eine vorgefasste Meinung gesucht wird.
Parallelen zur Vergangenheit
Die aktuelle US-Debatte zeigt dieselben Muster wie die deutsche vor 20 Jahren:
- Ignorieren bestehender Forschung
- Suche nach einfachen Lösungen für komplexe Probleme
- Ablenkung von kontroverseren Themen wie Waffengesetzen
Lehren aus Deutschland
Deutschland überwand die Killerspiel-Debatte durch:
- Sachliche Aufklärung: Medienpädagogen und Wissenschaftler klärten auf
- Differenzierte Berichterstattung: Medien lernten, komplexer zu berichten
- Politische Reife: Politiker erkannten die Komplexität des Themas
Fazit: Geschichte wiederholt sich
Robert F. Kennedy Jr.s Aussagen zu Videospielen und Gewalt sind ein Déjà-vu der deutschen Killerspiel-Debatte der 2000er Jahre. Beide ignorieren den wissenschaftlichen Konsens und suchen einfache Antworten auf komplexe gesellschaftliche Probleme.
Die deutsche Erfahrung zeigt: Solche Debatten sind natürlich, aber letztendlich unproduktiv. Echte Lösungen erfordern die Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Ursachen von Gewalt – psychische Gesundheit, soziale Isolation, Waffenverfügbarkeit und gesellschaftliche Spannungen.
Videospiele sind, wie bereits der Medienpädagoge Andreas Pauly erklärte, höchstens ein verstärkender Faktor in einem komplexen Ursachengefüge, niemals aber die Hauptursache für Gewalt. Es wird Zeit, dass auch die USA diese Erkenntnis akzeptieren und sich den wirklichen Problemen zuwenden.
Dieser Artikel basiert auf aktuellen Recherchen zu Robert F. Kennedy Jr.s Aussagen vom September 2025 und der historischen Aufarbeitung der deutschen Killerspiel-Debatte. Der erwähnte Beitrag der Bergischen Krankenkasse bietet eine ausgewogene, wissenschaftlich fundierte Perspektive auf das Thema.