Nach dreizehn Jahren Wartezeit ist er endlich da – Alan Wake 2. Remedy Entertainment hatte nach dem ersten Teil 2010 zunächst andere Projekte verfolgt, doch mit dem Erfolg von Control und der damit verbundenen finanziellen Sicherheit wagte das finnische Studio den Sprung zurück in die düstere Welt des Schriftstellers Alan Wake. Was dabei herausgekommen ist, lässt sich am besten so beschreiben: Stellt euch vor, David Lynch hätte sich entschieden, ein Videospiel zu entwickeln und dabei mit Stephen King zusammengearbeitet. Das Ergebnis wäre vermutlich so etwas wie Alan Wake 2 geworden.
Von Beginn an wird klar, dass wir es hier nicht mit einem klassischen Sequel zu tun haben. Remedy hat die letzten Jahre genutzt, um das Konzept des ersten Teils komplett zu überdenken und in eine völlig neue Richtung zu lenken. Während Alan Wake noch ein Action-Thriller mit Horror-Elementen war, präsentiert sich der zweite Teil als waschechter Survival-Horror-Titel, der uns über weite Strecken mehr erschreckt als kämpfen lässt. Das ist mutig, das ist anders – und das funktioniert verdammt gut.
Die Story von Alan Wake 2
Dreizehn Jahre sind seit den Ereignissen des ersten Teils vergangen, und Alan Wake steckt immer noch in der Dunkelwelt fest – einer alptraumhaften Parallelrealität, die von seinen eigenen Geschichten geformt wird. Während er verzweifelt versucht, eine Geschichte zu schreiben, die ihm die Flucht ermöglicht, beginnt in der realen Welt eine neue Mordserie in der fiktiven Kleinstadt Bright Falls. FBI-Agentin Saga Anderson wird zur Untersuchung entsandt und findet sich schon bald in einer Realität wieder, die den Gesetzen der Logik zu spotten scheint.
Das geniale an Alan Wake 2 ist die Zwei-Protagonisten-Struktur. Wir erleben die Geschichte sowohl aus Alans Perspektive in der Dunkelwelt als auch aus Sagas Sicht in der „normalen“ Welt – wobei sich schnell herausstellt, dass diese Normalität nur oberflächlich ist. Beide Handlungsstränge greifen ineinander über und beeinflussen sich gegenseitig auf eine Art und Weise, die uns als Spieler permanent ins Grübeln bringt. Ist das, was wir erleben, real? Ist es eine Geschichte? Oder ist es beides zugleich?
Remedy Entertainment hat hier eine Meta-Erzählung geschaffen, die permanent mit unseren Erwartungen spielt. Das Spiel reflektiert ständig über das Medium selbst, über Geschichten, über die Macht der Erzählung und über die dünne Linie zwischen Fiktion und Realität. Manchmal wird das durchaus etwas dick aufgetragen, aber meistens funktioniert diese selbstreferenzielle Herangehensweise brillant und sorgt für Momente, in denen man als Spieler wirklich nicht mehr weiß, wo man steht.
Gameplay und Mechaniken
Wer wie im ersten Alan Wake ein etwas actionlastigeres Erlebnis erwartet, wird zunächst überrascht sein. Alan Wake 2 ist deutlich zurückhaltender, was Kampfsequenzen angeht, und setzt stattdessen auf Atmosphäre, Erkundung und Rätsel. Das bedeutet aber nicht, dass das Spiel langweilig wäre – im Gegenteil. Die Spannung entsteht hier durch das, was wir nicht sehen, durch die Andeutung von Bedrohungen und durch eine Atmosphäre, die uns permanent das Gefühl gibt, dass gleich etwas Schreckliches passieren wird.
Als Saga Anderson erkunden wir die Wälder rund um Bright Falls und verschiedene Schauplätze der Mordserie. Das Gameplay erinnert dabei stark an klassische Detektivspiele: Wir sammeln Hinweise, erstellen Verbindungen zwischen verschiedenen Ereignissen und versuchen, dem Täter auf die Spur zu kommen. Sagas „Mind Place“ – ein mentaler Raum, in dem sie ihre Ermittlungen visualisiert – ist hier das zentrale Element. Ähnlich wie in True Detective oder anderen Krimiserien können wir hier Verbindungen zwischen Hinweisen ziehen und neue Erkenntnisse gewinnen.
Alans Abschnitte in der Dunkelwelt sind dagegen surrealer und experimenteller. Hier manipulieren wir die Realität durch das Umschreiben von Geschichten, verwandeln Umgebungen durch das Ändern von Worten und navigieren durch eine Welt, die den Gesetzen der Physik spottet. Diese Passagen sind oft verwirrend, manchmal frustrierend, aber auch unglaublich kreativ und einzigartig.
Wenn es doch mal zu Kämpfen kommt, setzt Alan Wake 2 auf das bewährte Licht-und-Schatten-System des Vorgängers, allerdings deutlich sparsamer eingesetzt. Munition ist knapp, Batterien für die Taschenlampe noch knapper, und oft ist Weglaufen die bessere Option als Kämpfen. Das verstärkt den Survival-Horror-Charakter erheblich und sorgt dafür, dass jede Begegnung mit den „Taken“ genannten Schattenwesen zu einer nervenaufreibenden Angelegenheit wird.
Grafik und Atmosphäre
Visuell ist Alan Wake 2 ein absolutes Meisterwerk. Remedy hat die hauseigene Northlight Engine auf ein neues Level gehoben und präsentiert uns eine Welt, die gleichzeitig wunderschön und verstörend ist. Die Wälder von Bright Falls wirken fotorealistisch, die Lichteffekte sind atemberaubend, und die Art, wie Schatten und Dunkelheit als spielerische Elemente eingesetzt werden, ist technisch wie künstlerisch beeindruckend.
Besonders hervorzuheben ist die Darstellung der Dunkelwelt. Remedy hat hier eine Ästhetik geschaffen, die irgendwo zwischen David Lynch, Silent Hill und modernem Arthouse-Horror angesiedelt ist. Verzerrte Geometrie, unmögliche Architektur und eine permanent wechselnde Realität sorgen dafür, dass wir als Spieler nie wirklich festen Boden unter den Füßen haben.
Die Charaktermodelle sind ebenfalls auf höchstem Niveau, wobei hier besonders die Gesichtsanimationen und die Körpersprache überzeugen. Sowohl Alan als auch Saga wirken wie echte Menschen mit authentischen Emotionen, was gerade bei einem Spiel, das so stark von seiner Erzählung lebt, extrem wichtig ist.
Sound und Musik
Audiovisuell setzt Alan Wake 2 neue Maßstäbe im Horror-Genre. Der Soundtrack von Petri Alanko ist ein Meisterwerk für sich – mal bedrohlich und düster, mal melancholisch und schön, immer aber perfekt auf die jeweilige Szene abgestimmt. Die Integration von Musik ins Gameplay, besonders in den Musical-Sequenzen (ja, ihr habt richtig gelesen), ist so kreativ und ungewöhnlich, dass man zunächst gar nicht glaubt, dass so etwas in einem Videospiel funktionieren kann.
Die Soundeffekte und die Atmosphäre sind ebenfalls erste Sahne. Remedy versteht es meisterhaft, mit Geräuschen und deren Abwesenheit zu spielen. Die Stille ist oft bedrohlicher als jeder Schrei, und wenn dann doch mal etwas Lautes passiert, sitzt man garantiert nicht mehr entspannt im Sessel.
Die Sprachausgabe ist durchweg exzellent, sowohl im englischen Original als auch in der deutschen Synchronisation. Matthew Porretta kehrt als Alan Wake zurück und liefert eine Performance ab, die zwischen Wahnsinn und Verzweiflung pendelt, ohne jemals ins Lächerliche abzudriften. Melanie Liburd als Saga Anderson ist ebenfalls hervorragend besetzt und verleiht ihrer Figur eine Glaubwürdigkeit und Stärke, die sie zu einer würdigen Protagonistin macht.
An dieser Stelle muss ich eine persönliche Anmerkung machen: Daniela Grubert, die deutsche Stimme von Saga Anderson, erinnert mich total an Britta Gartner, die Jesse Faden in Control synchronisiert hat. Beide machen einen hervorragenden Job und ihre Leistung ist absolut professionell und überzeugend. Aber das Problem ist – ich kann die Stimmen nicht leiden. Remedy schafft es irgendwie immer wieder, für ihre weiblichen Hauptrollen Sprecherinnen zu finden bzw. die beauftragten Studios, deren Stimmen zwar total gut zu ihren Rollen passen und objektiv betrachtet exzellent sind.
Technische Umsetzung und Features
Alan Wake 2 erschien zunächst nur digital, was bei einigen Fans für Unmut sorgte. Remedy begründete diese Entscheidung mit den niedrigeren Produktionskosten und der Möglichkeit, das Spiel schneller auf den Markt zu bringen. Technisch läuft das Spiel auf allen Plattformen solide, auch wenn die Hardware-Anforderungen auf dem PC recht hoch sind. Die Ladezeiten sind angenehm kurz, und Bugs oder technische Probleme traten in unserem Test praktisch nicht auf.
Besonders erwähnenswert ist die Integration in das „Remedy Connected Universe“. Fans von Control werden hier einige Verbindungen und Referenzen entdecken, die Lust auf mehr machen. Alan Wake 2 funktioniert aber auch völlig eigenständig und setzt keine Kenntnis der anderen Remedy-Spiele voraus.
Schwächen und Kritikpunkte
So beeindruckend Alan Wake 2 auch ist, ganz ohne Kritikpunkte kommt es nicht davon. Das Spiel ist sehr langsam und bedächtig erzählt, was nicht jeden Spieler ansprechen wird. Wer Action und schnelle Unterhaltung sucht, wird hier definitiv nicht fündig. Die Meta-Erzählung wird manchmal etwas zu selbstverliebt präsentiert, und einige der surrealen Sequenzen ziehen sich länger hin, als für den Spielfluss gut ist.
Die Rätsel sind manchmal etwas zu abstrakt und die Lösung nicht immer logisch nachvollziehbar. Gelegentlich hat man das Gefühl, dass Remedy zu sehr darauf bedacht war, künstlerisch und experimentell zu sein, und dabei die Spielbarkeit etwas aus den Augen verloren hat.
Fazit zu Alan Wake 2
Alan Wake 2 ist definitiv kein Spiel für jeden. Es ist sperrig, experimentell, manchmal frustrierend und verlangt vom Spieler eine Menge Geduld und Bereitschaft, sich auf etwas völlig anderes einzulassen. Aber genau das macht es auch zu einem der interessantesten und innovativsten Spiele der letzten Jahre.
Remedy Entertainment hat hier ein Kunstwerk geschaffen, das die Grenzen dessen, was in einem Videospiel möglich ist, immer wieder neu definiert. Die Verbindung aus exzellenter Atmosphäre, innovativem Storytelling und technischer Brillanz sucht ihresgleichen. Alan Wake 2 ist ein Spiel, über das man noch Jahre später sprechen wird, ein Titel, der das Medium Videospiel als Kunstform ernst nimmt und dabei trotzdem nie vergisst, dass es in erster Linie unterhalten soll.
Wer Horror-Spiele liebt, wer sich für innovative Erzählformen interessiert oder wer einfach mal etwas völlig anderes erleben möchte, sollte Alan Wake 2 definitiv eine Chance geben. Es ist nicht perfekt, aber es ist einzigartig – und das ist in der heutigen Gaming-Landschaft wichtiger denn je. Remedy hat bewiesen, dass auch 2023 noch Platz für kreative, mutige Projekte ist. Alan Wake ist zurück, und er hat einiges zu erzählen.
Bewertung: 8.7/10