Mit Atomfall liefert Rebellion sein bislang ambitioniertestes Projekt ab und wagt sich erstmals richtig in das Survival-Genre vor. Die Macher der Sniper Elite-Reihe haben sich für ihr neues Werk eine durchaus reizvolle Prämisse ausgedacht: Was wäre, wenn die Windscale-Katastrophe von 1957 nicht glimpflich ausgegangen wäre, sondern ganz Nordengland in eine radioaktive Sperrzone verwandelt hätte? Nach knapp zwei Jahren Entwicklung ist Atomfall nun da und ich durfte mich seit dem Release am 27. März durch die nebelverhangenen Hügel der englischen „Zone“ kämpfen.
Vorab muss ich gestehen: Die ersten Bilder und Trailer ließen mich sofort an eine britische Mischung aus Fallout und S.T.A.L.K.E.R. denken. Cricket-Schläger statt Baseballschläger, Tee statt Cola und statt amerikanischem Wasteland die grünen Hügel Nordenglands. Klingt erstmal wie ein Traum für alle Fans postapokalyptischer Settings. Ob Atomfall diesem ersten Eindruck gerecht wird, verrate ich euch in diesem Review.
Story und Gameplay
Atomfall beginnt klassisch mit einem Gedächtnisverlust. Ich erwache in einem verlassenen Bunker und werde von einem schwer verletzten Typen in Schutzanzug darüber informiert, dass ich „den Übergang“ finden muss – was auch immer das bedeuten mag. Mehr bekomme ich erstmal nicht zu hören, denn besagter Gentleman verabschiedet sich ziemlich schnell und lässt mich allein mit meiner Verwirrung zurück.
Das Jahr ist 1962, fünf Jahre nach dem fiktionalisierten Super-GAU von Windscale. Die gesamte Region wurde zur Sperrzone erklärt und von der militärischen Einheit „Protocol“ abgeriegelt. Was zunächst als Schutzmaßnahme gedacht war, hat sich über die Jahre zu einem repressiven Regime entwickelt. Die eingeschlossenen Bewohner haben sich in verschiedene Fraktionen aufgeteilt: Da wären die Überreste der ursprünglichen Dorfbevölkerung, mysteriöse Druidenkulte, Banditen und natürlich Protocol selbst.
Rebellion hat bewusst auf das typische Open-World-Konzept verzichtet und stattdessen mehrere dichtere Gebiete geschaffen, die es zu erkunden gilt. Das hat durchaus seinen Charme, denn anstatt sich in einer endlos großen, aber inhaltlich dünnen Spielwelt zu verlieren, wartet hier hinter jedem Hügel und in jedem Bunker etwas Interessantes. Die verschiedenen Schauplätze – von idyllischen Dörfern über unterirdische Anlagen bis hin zu mystischen Steinkreisen – erzählen alle ihre eigene kleine Geschichte.
Was Atomfall besonders auszeichnet, ist der Verzicht auf das typische Hand-Holding moderner Spiele. Nach dem kurzen Intro werde ich quasi von der Leine gelassen und muss selbst herausfinden, was zu tun ist. Questmarkierungen? Fehlanzeige. Klare Anweisungen? Nur spärlich vorhanden. Stattdessen gilt es, Gespräche aufmerksam zu verfolgen, Hinweise zu sammeln und eigene Schlüsse zu ziehen. Das mag anfangs frustrierend sein, entwickelt aber schnell einen ganz eigenen Reiz. Endlich mal wieder ein Spiel, das mir zutraut, selbst zu denken!
Das Kampfsystem ist eine interessante Mischung aus Fern- und Nahkampf. Munition ist rar gesät, also greife ich oft zum guten alten Cricket-Schläger oder anderen improvisierten Waffen. Die Kämpfe sind durchaus knackig und erfordern taktisches Vorgehen – besonders wenn man mehreren Gegnern gleichzeitig gegenübersteht. Ein Herzfrequenz-System sorgt dafür, dass hektisches Geballer bestraft wird: Nur wer ruhig bleibt, kann präzise zielen.
Atmosphäre und Setting
Hier spielt Atomfall seine größte Stärke aus. Die Entwickler haben es geschafft, eine wirklich einzigartige Atmosphäre zu schaffen, die sich deutlich von anderen postapokalyptischen Spielen abhebt. Anstatt der üblichen Ödnis erstrahlt die englische Landschaft in sattem Grün – eine trügerische Idylle, die die Gefahren der Zone umso bedrohlicher wirken lässt.
Die Mischung aus Science Fiction, Folk Horror und britischem Humor funktioniert überraschend gut. Da trinke ich mit einem Dorfältesten Tee, während er mir nebenbei von mutierten Pflanzen erzählt, als wäre das das Normalste der Welt. Oder ich entdecke alte Bunker, in denen mysteriöse Experimente durchgeführt wurden. Die Lore ist durchdacht und macht Lust darauf, jede Kassette und jeden Zettel zu finden, um mehr über die Vorgeschichte zu erfahren.
Besonders gelungen sind die verschiedenen Charaktere, denen ich in der Zone begegne. Jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte und Motivation. Da ist der paranoia übertragene Verschwörungstheoretiker, der überall Regierungsagenten wittert, oder die Anführerin eines Druidenzirkels, die die Katastrophe als Chance für einen Neubeginn sieht. Die Dialoge sind durchweg gut geschrieben und mit dem typisch trockenen britischen Humor gewürzt.
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Grafik und Sound
Visuell setzt Atomfall auf einen eher stilisierten Look, der sich bewusst vom Fotorealismus anderer AAA-Titel abhebt. Die Farben sind kräftig und kontrastreich, was perfekt zur surrealen Atmosphäre des Spiels passt. Rebellion nutzt eine aufgemöbelte Version ihrer Asura-Engine, die bereits in den Sniper Elite-Spielen zum Einsatz kam.
Die Landschaften sind durchweg hübsch anzusehen – von den nebelverhangenen Mooren bis zu den verwinkelten Dorfstraßen. Besonders die Innenräume der verschiedenen Bunker und Gebäude sind liebevoll gestaltet und erzählen ihre eigenen kleinen Geschichten. Hier ein umgestürzter Teetisch, dort ein hastig gepackter Koffer – solche Details lassen die Welt lebendig wirken.
Ein kleiner Kritikpunkt ist das fehlende temporale Anti-Aliasing. Stattdessen kommt nur eine einfache Postfilter-Lösung zum Einsatz, was zu leichtem Kantenflimmern führt. Das ist zwar nicht spielbrechend, lässt das Spiel aber etwas altbacken wirken.
Die Soundkulisse ist dagegen tadellos gelungen. Die Umgebungsgeräusche – vom Rauschen des Winds über das Knarren alter Holzplanken bis zum fernen Donner – schaffen eine dichte Atmosphäre. Die englische Synchronisation ist durchweg hochwertig und trägt viel zur Authentizität bei. Leider gibt es keine deutsche Sprachausgabe, die Untertitel sind aber ordentlich übersetzt.
Survival ohne Überlebenskampf
Im Gegensatz zu vielen anderen Survival-Spielen konzentriert sich Atomfall nicht darauf, mich mit ständigem Hunger und Durst zu nerven. Stattdessen stehen Erkundung und Rätsellösung im Vordergrund. Natürlich muss ich Ressourcen sammeln und Gegenstände craften, aber das System ist angenehm unaufdringlich.
Der Metalldetektor wird schnell zu meinem besten Freund – nicht nur um vergrabene Schätze aufzuspüren, sondern auch um wichtige Story-Gegenstände zu finden. Die Crafting-Möglichkeiten sind überschaubar aber sinnvoll: Von Bandagen über Molotow-Cocktails bis hin zu improvisierten Waffen lässt sich alles herstellen, was man für das Überleben braucht.
Das Skillsystem beschränkt sich auf etwa 30 Fertigkeiten, die verschiedene Aspekte des Spiels abdecken. Von verbesserter Nahkampf-Effizienz über präziseres Zielen bis hin zu besserer Ressourcenerkennung ist alles dabei. Die Auswahl ist überschaubar, aber jeder Punkt fühlt sich sinnvoll an.
Die Sache mit den Vergleichen
Ja, Atomfall erinnert oberflächlich an Fallout und S.T.A.L.K.E.R. Aber das ist auch schon alles. Während Fallout auf Retro-Futurismus und schwarzen Humor setzt, geht Atomfall einen deutlich ernsteren Weg. Und im Gegensatz zu S.T.A.L.K.E.R. mit seinen gefährlichen Anomalien und Artefakten steht hier die menschliche Komponente im Vordergrund.
Rebellion hat bewusst ein eigenes Spiel geschaffen, das zwar Anleihen bei den Genrevertretern macht, aber seinen ganz eigenen Charakter entwickelt. Das britische Setting mit all seinen Eigenarten sorgt für genügend Abgrenzung zu den amerikanischen und osteuropäischen Konkurrenten.
Fazit zu Atomfall
Nach etwa zwölf Stunden in der Zone kann ich sagen: Atomfall ist ein kleines Highlight geworden, auch wenn es sicher nicht jeden Spieler begeistern wird. Das Spiel richtet sich eindeutig an Fans von Exploration und storygetriebenem Gameplay, die bereit sind, sich auf ein langsameres Tempo einzulassen.
Die größte Stärke von Atomfall ist definitiv seine Eigenständigkeit. Rebellion hat es geschafft, ein vertrautes Genre mit frischen Ideen zu beleben. Das britische Setting, die atmosphärische Dichte und der Verzicht auf aufdringliche Questführung schaffen ein Spielerlebnis, das sich deutlich von der Konkurrenz abhebt.
Natürlich hat das Spiel auch seine Schwächen. Die Story entwickelt relativ wenig Tiefgang und die technische Umsetzung ist eher solide als spektakulär. Auch die Kämpfe könnten etwas mehr Abwechslung vertragen. Trotzdem hat mich Atomfall mit seinem besonderen Charme bis zum Ende gefesselt – und das ist bei heutigen Spielen keine Selbstverständlichkeit mehr.
Wer Lust auf ein ungewöhnliches postapokalyptisches Abenteuer hat und sich nicht daran stört, mal wieder selbst denken zu müssen, sollte definitiv einen Blick in die englische Zone werfen. Besonders Game Pass-Abonnenten können bedenkenlos zugreifen – für alle anderen ist Atomfall eine lohnenswerte Investition, die zeigt, dass auch kleinere Studios noch überraschende Perlen schaffen können.
Am Ende ist Atomfall genau das geworden, was die Entwickler versprochen haben: Ein Spiel mit Ecken und Kanten, das seinen ganz eigenen Weg geht. Und manchmal braucht man genau das – ein Spiel, das sich traut, anders zu sein.