Mit Baldur’s Gate liefert das noch relativ unbekannte kanadische Entwicklerstudio BioWare sein Debütwerk ab und stellt dabei die gesamte Rollenspiel-Landschaft auf den Kopf. Nach Jahren der Dominanz japanischer JRPGs wie Final Fantasy oder Secret of Mana wagt sich BioWare an das scheinbar unmögliche Unterfangen, die komplexen Dungeons & Dragons-Regeln in ein Computerspiel zu übersetzen. Das Ergebnis ist ein 80-stündiges Fantasy-Epos, das westliche Rollenspiele endgültig aus dem Dornröschenschlaf erweckt und neue Maßstäbe setzt. Bereits seit der Ankündigung vor zwei Jahren verfolgen Rollenspiel-Enthusiasten gespannt die Entwicklung dieses ambitionierten Projekts, das erstmals die Advanced Dungeons & Dragons-Regeln der zweiten Edition vollständig implementiert.
Von Beginn an wird klar, dass Baldur’s Gate kein gewöhnliches Computerspiel ist, sondern vielmehr der Versuch, ein Pen-&-Paper-Abenteuer vollständig digital erlebbar zu machen. Das gelingt den Entwicklern in einer Art und Weise, die selbst eingefleischte D&D-Veteranen verblüffen dürfte. Hier wurde nicht einfach nur eine Geschichte erzählt, sondern eine lebendige Fantasywelt erschaffen, in der jede Entscheidung zählt und in der man sich tatsächlich wie der Held eines großen Abenteurromans fühlt.
Story – Ein episches Abenteuer in den Vergessenen Reichen
Die Geschichte von Baldur’s Gate führt uns in die Vergessenen Reiche (Forgotten Realms), eine der bekanntesten Kampagnenwelten aus dem Dungeons & Dragons-Universum. Wir schlüpfen in die Rolle eines jungen Helden, der im befestigten Kloster von Kerzburg unter der Obhut des weisen Mönchs Gorion aufgewachsen ist. Dieser ruhige Alltag wird jäh unterbrochen, als geheimnisvolle Mächte unser beschauliches Leben bedrohen und Gorion zur überhasteten Flucht drängt. Was folgt, ist eine Reise voller Gefahren, Intrigen und Entdeckungen, die uns von den friedlichen Bibliotheken Kerzburgs bis in die düsteren Minen der Schwertküste führt.
Ohne zu viel der komplexen Handlung vorwegzunehmen, sei gesagt, dass die Story weitaus vielschichtiger ist, als es zunächst den Anschein hat. Die anfangs simple Rächer-Geschichte entwickelt sich zu einem fein gesponnenen Netz aus politischen Intrigen, persönlichen Tragödien und kosmischen Bedrohungen. Dabei gelingt es BioWare meisterhaft, sowohl die großen epischen Momente als auch die kleinen, persönlichen Geschichten der Begleiter zu erzählen. Jeder der rekrutierbaren Gefährten hat seine eigene Hintergrundgeschichte, seine Motivationen und seine ganz eigenen Quests, die sich organisch in die Haupthandlung einfügen.
Besonders beeindruckend ist die Art, wie das Spiel mit moralischen Entscheidungen umgeht. Anders als bei vielen anderen Rollenspielen gibt es hier selten eine eindeutig „richtige“ Lösung. Die Welt von Baldur’s Gate ist in Grautönen gemalt, und oft muss man zwischen verschiedenen Übeln wählen oder Kompromisse eingehen, die einen noch Stunden später beschäftigen. Das Alignment-System (Gesinnung) aus D&D wurde dabei intelligent implementiert und beeinflusst nicht nur die verfügbaren Dialogoptionen, sondern auch die Reaktionen der Mitspieler und NPCs.
Gameplay – Strategische Tiefe trifft auf Zugänglichkeit
Das Herzstück von Baldur’s Gate ist ohne Zweifel das Kampfsystem, das die AD&D-Regeln in Echtzeit umsetzt. Auf den ersten Blick mag das chaotisch wirken – sechs Charaktere prügeln gleichzeitig auf ihre Gegner ein, Zauber fliegen durch die Luft und das Kampflog füllt sich rasant mit Würfelwürfen und Schadensmeldungen. Doch wer sich die Mühe macht, die Pausefunktion zu nutzen und das System zu verstehen, entdeckt eine strategische Tiefe, die ihresgleichen sucht.
Die Pausefunktion ist dabei der Schlüssel zum Erfolg. Mit einem einfachen Tastendruck friert die Zeit ein, und man kann in aller Ruhe Befehle erteilen, Positionen ändern oder Zauber vorbereiten. Das fühlt sich genau so an, wie man es vom Pen-&-Paper kennt – der Spielleiter hält die Zeit an, während die Spieler ihre Züge planen. Für Einsteiger mag diese Komplexität zunächst überwältigend wirken, aber das Spiel lässt einem alle Zeit der Welt, um sich einzuarbeiten.
Was Baldur’s Gate von anderen Rollenspielen unterscheidet, ist die schiere Vielfalt an taktischen Möglichkeiten. Ein Kampf gegen eine Gruppe von Orks lässt sich auf Dutzende verschiedene Arten angehen: Der Krieger kann frontal angreifen, während der Dieb von hinten zuschlägt. Der Magier kann die Feinde mit einem Schlafzauber außer Gefecht setzen, oder der Kleriker bannt die Untoten mit göttlicher Macht. Jede Klasse spielt sich völlig anders, und die Kombinationsmöglichkeiten sind praktisch endlos.
Die Charaktererschaffung verdient dabei eine besondere Erwähnung. Selten hat ein Spiel so viele Optionen geboten, um seinen perfekten Helden zu erschaffen. Von der Klassenwahl über die Verteilung der Attributspunkte bis hin zur Auswahl der Fertigkeiten – hier kann man stundenlang experimentieren und planen. Besonders faszinierend sind die Multiclass-Möglichkeiten, die es erlauben, zum Beispiel einen Kämpfer-Magier oder einen Dieb-Kleriker zu spielen. Das eröffnet völlig neue strategische Ansätze und macht jeden Spieldurchgang zu einem einzigartigen Erlebnis.
Die Benutzeroberfläche orientiert sich stark am AD&D-Regelwerk und kann anfangs etwas einschüchternd wirken. Dutzende von Buttons, Inventarfenster, Zauberspruchlisten und Charakterbögen wollen verstanden werden. Doch wer sich einmal eingearbeitet hat, merkt schnell, wie durchdacht und funktional alles aufgebaut ist. Besonders gelungen ist die Implementation der Zaubersprüche – Magier und Kleriker müssen ihre Sprüche vor dem Kampf vorbereiten und können sie dann entsprechend einsetzen. Das erzeugt eine ganz neue strategische Ebene, da man vorausplanen muss, welche Zauber man für den nächsten Dungeon benötigen wird.
Grafik – Handgemalte Fantasywelten zum Leben erweckt
Optisch setzt Baldur’s Gate auf eine Mischung aus vorgerenderten Hintergründen und zweidimensionalen Sprites, die jedoch so detailreich und atmosphärisch sind, dass man die fehlende 3D-Technik schnell vergisst. Die Umgebungen wurden liebevoll von Hand gemalt und strahlen eine Authentizität aus, die an die besten Fantasy-Illustrationen erinnert. Jeder Schauplatz erzählt seine eigene Geschichte – von den düsteren Verliesen voller Spinnweben bis zu den prachtvollen Bibliotheken mit ihren hohen Gewölben.
Besonders beeindruckend ist die Detailverliebtheit der Entwickler. Bücherregale sind bis in die letzte Ecke ausgearbeitet, Tavernen wirken durch herumstehende Krüge und verschüttetes Bier lebendig, und selbst die kleinsten Nebenschauplätze sind mit so viel Liebe gestaltet, dass man gerne einfach nur durch die Welt wandelt und die Atmosphäre auf sich wirken lässt. Die Charaktersprites sind zwar nicht besonders groß, aber dafür sehr sauber animiert und gut voneinander unterscheidbar.
Die Wettereffekte und der Tag-Nacht-Wechsel tragen zusätzlich zur Atmosphäre bei. Ein Gewitter in den nebligen Sümpfen wirkt ganz anders als Sonnenschein auf dem geschäftigen Marktplatz von Beregost. Diese kleinen Details summieren sich zu einem Gesamtbild auf, das trotz der technischen Beschränkungen der Zeit absolut überzeugt.
Sound – Ein Fest für die Ohren
Audiovisuell leistet sich Baldur’s Gate keine Schwächen. Der Soundtrack von Michael Hoenig ist ein wahres Meisterwerk, das die verschiedenen Stimmungen des Spiels perfekt einfängt. Von den majestätischen Fanfaren des Hauptthemas über die düsteren Klänge in den Verliesen bis hin zu den friedlichen Melodien in den Wäldern – jede Komposition sitzt perfekt und verstärkt die Immersion enorm. Besonders hervorzuheben ist dabei, dass die Musik nie aufdringlich wird, sondern sich organisch in das Spielgeschehen einfügt.
Die Sprachausgabe ist durchweg von hoher Qualität, auch wenn nicht alle Dialoge vertont wurden. Die wichtigen Charaktere haben alle ihre eigenen, markanten Stimmen, und die Sprecher schaffen es, Persönlichkeit und Emotionen glaubwürdig zu transportieren. Besonders gelungen sind die Battle-Cries der verschiedenen Charaktere, die jedem Gefährten eine individuelle Note verleihen.
Die Soundeffekte sind ebenfalls tadellos umgesetzt. Das Klirren von Schwertern, das Prasseln von Feuerbällen und das Heulen der Wölfe in der Ferne – all das trägt zur dichten Atmosphäre bei. Besonders die Zaubersprüche sind mit eindrucksvollen Soundeffekten unterlegt, die das Gefühl vermitteln, tatsächlich mächtige Magie zu wirken.
![[Review] Baldur's Gate 2 YouTube player](https://i.ytimg.com/vi/8fK-sLBmfyE/maxresdefault.jpg)
Die Infinity Engine – Technisches Fundament eines Klassikers
Unter der Haube arbeitet die eigens für Baldur’s Gate entwickelte Infinity Engine, die sich als technische Meisterleistung erweist. Trotz der komplexen AD&D-Regeln und der Echtzeitkämpfe mit bis zu sechs Charakteren läuft das Spiel erstaunlich stabil und flüssig. Die Engine bewältigt problemlos große Kämpfe mit Dutzenden von Beteiligten und verwaltet gleichzeitig Hunderte von Gegenständen und Zaubersprüchen.
Besonders beeindruckend ist die Implementierung der Wegfindung. Die Charaktere navigieren intelligent durch komplexe Dungeons und finden meist den optimalen Pfad zu ihrem Ziel. Lediglich in sehr engen Passagen oder bei komplexen Formationen kann es gelegentlich zu kleineren Problemen kommen, die aber nie spielentscheidend sind.
Die Ladezeiten zwischen den verschiedenen Gebieten sind angenehm kurz, und das Spiel bietet umfangreiche Konfigurationsmöglichkeiten für verschiedene Hardwarekonfigurationen. Selbst auf etwas schwächeren Systemen läuft Baldur’s Gate zufriedenstellend, auch wenn man bei der maximalen Detailstufe schon eine ordentliche 3D-Karte benötigt.
Wiederspielwert – Ein Spiel für die Ewigkeit
Der Wiederspielwert von Baldur’s Gate ist praktisch grenzenlos. Alleine die verschiedenen Charakterklassen sorgen für völlig unterschiedliche Spielerfahrungen. Ein Magier spielt sich komplett anders als ein Barbar, und die Multi-Class-Kombinationen eröffnen noch weitere Möglichkeiten. Hinzu kommen die verschiedenen Begleiter, die man rekrutieren kann – jede Zusammenstellung führt zu anderen Dialogen und Gruppendynamiken.
Die moralischen Entscheidungen sorgen ebenfalls für hohen Wiederspielwert. Spielt man einen bösen Charakter, eröffnen sich völlig andere Questlösungen und Storylines. Manche Bereiche des Spiels kann man nur mit bestimmten Gesinnungen betreten, und verschiedene NPCs reagieren völlig unterschiedlich auf den Charakter.
Selbst nach dem Durchspielen der Hauptgeschichte gibt es noch unzählige Nebenquests zu entdecken. Manche davon sind so gut versteckt oder an spezielle Voraussetzungen geknüpft, dass man sie erst im zweiten oder dritten Durchgang findet. Die Entwickler haben wirklich an alles gedacht und belohnen neugierige Spieler mit zusätzlichen Inhalten.
Fazit zu Baldur’s Gate
BioWare hat mit Baldur’s Gate nicht nur ein hervorragendes Rollenspiel geschaffen, sondern gleichzeitig ein neues Genre definiert. Selten hat ein Spiel die Komplexität und Tiefe von Pen-&-Paper-Rollenspielen so authentisch auf den Computer übertragen. Die Mischung aus strategischen Kämpfen, tiefgreifender Charakterentwicklung und einer fesselnden Geschichte setzt neue Maßstäbe für westliche Rollenspiele.
Sicher, das Spiel ist nicht ohne Schwächen. Die Einarbeitung dauert ihre Zeit, und Gelegenheitsspieler könnten von der Komplexität erschlagen werden. Auch die Benutzeroberfläche hätte etwas benutzerfreundlicher gestaltet werden können. Aber diese kleinen Kritikpunkte verschwinden völlig angesichts der enormen Leistung, die BioWare hier vollbracht hat.
Mir persönlich hat Baldur’s Gate wochenlang den Schlaf geraubt und mich völlig in seinen Bann gezogen. Es ist eines jener seltenen Spiele, bei denen man noch Jahre später neue Details entdeckt und die man immer wieder gerne hervorkramt. Wer auch nur ein wenig für Rollenspiele oder Fantasy übrig hat, sollte sich dieses Meisterwerk keinesfalls entgehen lassen.
BioWare beweist mit diesem Debüt, dass kanadische Entwickler durchaus mit den etablierten Größen der Branche mithalten können. Man darf gespannt sein, was uns das Studio als nächstes präsentieren wird. Falls sie es schaffen, an die Qualität von Baldur’s Gate anzuknüpfen, stehen uns goldene Zeiten für Rollenspiel-Fans bevor.
Baldur’s Gate ist ein Meilenstein, der das Rollenspiel-Genre für immer verändert hat. Ein absolutes Muss für jeden Spieler, der Tiefe, Komplexität und epische Geschichten zu schätzen weiß.
Bewertung 9/10
Testsystem: Pentium II 233 MHz, 64 MB RAM, Hercules Terminator 3DX mit 3dfx Voodoo2, Windows 95 Spielzeit: ca. 80+ Stunden für den ersten Durchgang USK: Ab 12 Jahren Entwickler: BioWare Publisher: Interplay Entertainment