Nach fünf langen Jahren kehrt Max Caulfield endlich zurück und mit ihr eine der emotionalsten Spielereihen überhaupt. Als Deck Nine Games 2021 mit Life is Strange: True Colors bewiesen hat, dass sie das Erbe von DONTNOD würdig weiterführen können, war die Spannung auf Max‘ Rückkehr riesig. Life is Strange: Double Exposure verspricht nicht nur eine neue Geschichte, sondern auch eine völlig neue Superkraft für unsere geliebte Protagonistin. Ob das funktioniert oder ob man besser bei der guten alten Zeitreise geblieben wäre? Nach knapp 15 Stunden im fiktiven Caledon College kann ich sagen: Es ist kompliziert – aber auf eine verdammt gute Art.
Diesmal geht es nicht um Zeitreisen, sondern um Parallelwelten. Max hat ihre Zeitmanipulation an den Nagel gehängt (aus gutem Grund, wie wir wissen) und ist nun Fotografiedozentin am Caledon College in Vermont. Das idyllische Campusleben wird jäh unterbrochen, als ihre beste Freundin Safi ermordet wird. Aber halt – Max entdeckt, dass sie zwischen zwei parallelen Realitäten wechseln kann. In der einen ist Safi tot, in der anderen lebt sie noch. Klingt wie die perfekte Gelegenheit für ein Happy End, oder? Nun ja, wer Life is Strange kennt, weiß, dass es nie so einfach ist.
Story und neue Superkraft
Die Geschichte von Double Exposure ist deutlich erwachsener geworden – genau wie Max selbst. Sie ist jetzt Mitte zwanzig, hat Lebenserfahrung gesammelt und trägt immer noch die Narben ihrer Erlebnisse aus Arcadia Bay mit sich herum. Das merkt man ihr in jeder Szene an. Die Entwickler haben Max‘ Charakter wirklich durchdacht weiterentwickelt, ohne dabei zu vergessen, was sie ausmacht. Ihre Unsicherheit, ihre Empathie und ja, auch ihre Tendenz, sich in Dinge einzumischen, die sie vielleicht besser in Ruhe lassen sollte.
Die neue Fähigkeit, zwischen zwei Realitäten zu wechseln, fühlt sich anfangs ungewohnt an, aber nach ein paar Kapiteln hat man den Dreh raus. Man kann Gegenstände und Informationen von einer Welt in die andere „mitnehmen“, was zu wirklich cleveren Rätseln führt. In Realität A findest du einen Schlüssel, in Realität B kannst du damit eine Tür öffnen, die in der ersten Welt verschlossen war. Klingt simpel, wird aber immer komplexer und führt zu einigen echten „Aha!“-Momenten.
Was mir besonders gut gefällt: Die Geschichte macht sich Gedanken über die Konsequenzen. Max ist nicht mehr das naive Teenager-Mädchen von damals. Sie weiß, was passiert, wenn man zu sehr mit übernatürlichen Kräften herumpfuscht. Trotzdem kann sie nicht anders, als zu versuchen, Safi zu retten. Diese innere Zerrissenheit wird sehr glaubwürdig dargestellt.
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Neue Charaktere, alte Gefühle
Das Caledon College ist voller interessanter Persönlichkeiten. Safi selbst ist ein komplexer Charakter – selbstbewusst, aber verletzlich, beliebt, aber mit Geheimnissen. Ihre Beziehung zu Max fühlt sich authentisch an, und man versteht sofort, warum Max alles riskieren würde, um sie zu retten. Dann ist da noch Moses, Safis Ex-Freund, der Geheimnisse hat, Amanda, die ehrgeizige Journalistin, und Reggie, Max‘ neue Kollegin, die mich stark an Kate Marsh aus dem ersten Teil erinnert.
Was mich wirklich überrascht hat: Es gibt tatsächlich einen Cameo-Auftritt von Chloe Price! Ohne zu viel zu verraten – je nachdem, welche Entscheidung ihr am Ende des ersten Spiels getroffen habt, fällt dieser Auftritt unterschiedlich aus. Deck Nine hat wirklich daran gedacht, dass es zwei völlig verschiedene Enden gab. Respekt dafür!
Gameplay und Atmosphäre
Das Gameplay folgt der bekannten Life is Strange-Formel: Erkunden, Gespräche führen, schwierige Entscheidungen treffen. Die Fotografieelemente sind zurück und besser integriert denn je. Max‘ Kamera ist nicht nur Nostalgie, sondern wichtiger Teil des Gameplays. Manche Rätsel löst man nur, indem man Fotos macht und sie in der anderen Realität als Hinweise verwendet.
Die Entscheidungen fühlen sich wieder gewichtig an, auch wenn nicht alle davon wirklich dramatische Konsequenzen haben. Aber das ist okay – manchmal geht es einfach darum, zu zeigen, was für ein Mensch Max ist. Die großen moralischen Dilemmata sind natürlich auch da, und ich habe mich dabei ertappt, wie ich minutenlang über manche Entscheidungen nachgedacht habe.
Das Caledon College ist wunderschön gestaltet. Die herbstliche Atmosphäre, die gemütlichen Bibliotheken, die Studentenwohnheime – alles fühlt sich lebendig und authentisch an. Besonders beeindruckend sind die Unterschiede zwischen den beiden Realitäten. Manchmal sind es nur kleine Details – ein anderes Poster hier, eine andere Frisur dort. Manchmal sind die Unterschiede dramatischer.
Grafik und Sound
Technisch ist Double Exposure ein deutlicher Schritt nach vorn. Die Gesichtsanimationen sind viel ausdrucksstärker als in True Colors, und die Lippensynchronisation passt endlich! Die Beleuchtung ist fantastisch, besonders wenn Max zwischen den Realitäten wechselt – da entstehen wirklich magische Momente.
Der Soundtrack ist wieder einmal phänomenal. Die Mischung aus melancholischen Indie-Songs und orchestraler Musik passt perfekt zur Stimmung. Besonders die Momente, in denen Max ihre Kamera zückt und die Welt um sie herum einfriert, sind musikalisch grandios untermalt.
Hannah Telle ist als Max‘ Stimme zurück und liefert eine hervorragende Performance ab. Man hört die Jahre, die vergangen sind, aber auch die Kontinuität des Charakters. Die deutsche Synchronisation ist leider nicht ganz so stark wie das englische Original, aber durchaus okay.
Ein paar Kritikpunkte
Ganz perfekt ist Double Exposure nicht. Die ersten beiden Kapitel fühlen sich etwas langatmig an, und manche Rätsel sind unnötig kompliziert. Manchmal hätte ich mir gewünscht, dass das Spiel mutiger mit seiner neuen Mechanik umgeht – gegen Ende hin nutzt es das Potenzial der Parallelwelten nicht ganz aus.
Auch die Tatsache, dass man die Wahl zwischen „Chloe gerettet“ und „Arcadia Bay gerettet“ treffen muss, um das Spiel zu starten, fühlt sich etwas künstlich an. Es hat Auswirkungen auf die Geschichte, aber nicht so sehr, wie man erwarten würde. Das ist verständlich aus Entwicklersicht, aber trotzdem etwas enttäuschend.
Fazit
Life is Strange: Double Exposure ist eine gelungene Fortsetzung, die beweist, dass Max Caulfield immer noch eine der besten Protagonistinnen in Videospielen ist. Die neue Superkraft mag am Anfang gewöhnungsbedürftig sein, aber sie eröffnet faszinierende narrative Möglichkeiten. Die Geschichte ist erwachsener, die Charaktere sind vielschichtig, und die Atmosphäre ist wieder einmal magisch.
Ist es so gut wie das Original? Das ist schwer zu sagen – Life is Strange war schließlich ein Phänomen, das die Gaming-Welt verändert hat. Aber Double Exposure steht definitiv für sich selbst und erzählt eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden. Wer schon immer wissen wollte, was aus Max geworden ist, bekommt hier eine befriedigende Antwort.
Für Fans der Serie ist Double Exposure ein Muss. Newcomer sollten definitiv erst die vorherigen Teile spielen – die emotionale Wirkung ist einfach größer, wenn man Max‘ gesamte Reise miterlebt hat. So oder so: Deck Nine Games hat bewiesen, dass Life is Strange in den besten Händen ist.