Mit Lost Records: Bloom & Rage melden sich die Macher des ursprünglichen Life is Strange zurück und liefern dabei ihr bisher emotional stärkstes Werk ab. DON’T NOD Entertainment, die nach dem Verkauf der Life is Strange-Rechte an Square Enix neue Wege gehen mussten, haben mit Lost Records eine spirituelle Nachfolge geschaffen, die in vielen Belangen sogar über das Original hinausgeht. Das Spiel erschien planmäßig in zwei Episoden – „Tape 1: Bloom“ am 18. Februar und „Tape 2: Rage“ am 15. April 2025 – und erzählt die Geschichte von vier Freundinnen, deren Sommer 1995 alles veränderte.
Story und Charaktere
Lost Records: Bloom & Rage springt geschickt zwischen zwei Zeitebenen hin und her: dem Sommer 1995 in Velvet Cove, Michigan, und der Gegenwart von 2022. Wir spielen Swann Holloway, eine liebenswert unbeholfene 16-Jährige, die mit ihrer Videokamera die Welt festhält und dabei auf drei andere Mädchen trifft: die rebellische Nora, die bedachte Autumn und die rätselhafte Kat. Was als unschuldiger Sommerspaß beginnt, entwickelt sich zu einer tiefen Freundschaft – bis ein mysteriöses Ereignis alles zerstört und die vier dazu bringt, sich zu schwören, nie wieder über diesen Sommer zu sprechen.
27 Jahre später führt das Schicksal sie wieder zusammen, um sich einem lange begrabenen Geheimnis zu stellen. DON’T NOD hat hier wirklich hervorragende Arbeit geleistet: Die Charakterisierung ist so authentisch, dass man sich sofort in diese ungleiche Freundesgruppe hineinversetzen kann. Besonders Swann als Protagonistin ist fantastisch geschrieben – ihre Unbeholfenheit im sozialen Umgang, ihre Leidenschaft für das Filmen und ihre graduelle Entwicklung machen sie zu einer der besten Spielfiguren, die DON’T NOD je geschaffen hat.
Das Drehbuch stammt von den US-Autorinnen Desiree Cifre und Nina Freeman, was für die kulturelle Authentizität des amerikanischen Settings sorgt. Man merkt an jeder Ecke, wie viel Liebe zum Detail in die Darstellung der 90er Jahre geflossen ist – von der Musik über die Mode bis hin zu den typischen Teenager-Sorgen der Zeit.
Gameplay und Mechaniken
Was Lost Records von anderen narrativen Adventures unterscheidet, ist die innovative Kamera-Mechanik. Swann trägt fast immer ihre Videokamera bei sich, und das Filmen ihrer Freunde und der Umgebung wird zu einem zentralen Gameplay-Element. Ähnlich wie in Pokémon Snap gilt es, bestimmte Momente und Motive einzufangen, um thematische Videos zu erstellen. Das System ist dabei erfreulich tolerant – man muss nicht pixelgenau zielen, sondern kann kreativ mit der Kameraführung experimentieren. Die fertigen Montagen anzuschauen macht richtig Spaß und vermittelt das Gefühl, selbst Teil dieser Freundesgruppe zu sein.
Die Dialogentscheidungen haben spürbare Auswirkungen auf beide Zeitebenen, was dem Spiel einen echten Wiederspielwert verleiht. Besonders gelungen ist dabei, wie unterschiedlich sich Swann in verschiedenen Situationen verhalten kann – mal schüchtern und zurückhaltend, mal überraschend frech und vorlaut. Diese Entscheidungen fühlen sich nie künstlich an, sondern spiegeln die komplexe Persönlichkeit eines Teenagers wider, der zum ersten Mal echte Freundschaften erlebt.
Die Erkundung von Velvet Cove macht ebenfalls Spaß, auch wenn sie manchmal etwas linear ausfällt. Die verschiedenen Schauplätze – von Noras Garage bis zur mysteriösen Waldhütte – sind mit viel Liebe zum Detail gestaltet und laden zum Entdecken ein. Allerdings hätte ich mir an manchen Stellen etwas mehr Freiheit beim Erkunden gewünscht.
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Grafik und Präsentation
Visuell ist Lost Records ein echter Hingucker. DON’T NOD hat seinen charakteristischen Stil weiterentwickelt und dabei eine perfekte Balance zwischen Stilisierung und Realismus gefunden. Die Darstellung der 90er Jahre ist nostalgisch, ohne kitschig zu werden, und die verschiedenen Schauplätze vermitteln authentisch das Gefühl eines amerikanischen Sommers. Besonders beeindruckend sind die Gesichtsanimationen und die Motion-Capture-Arbeit – die Charaktere wirken lebendig und ausdrucksstark.
Die Lichteffekte verdienen eine besondere Erwähnung: Der Wechsel von den warmen, goldenen Sommertagen zu den düsteren, geheimnisvollen Nächten schafft eine Atmosphäre, die perfekt zur Geschichte passt. Auch die mysteriösen übernatürlichen Elemente – ohne zu viel zu verraten – sind visuell sehr gelungen inszeniert.
Ein kleines Manko: Die Ladezeiten zwischen den Szenen fallen manchmal etwas lang aus, was den Spielfluss gelegentlich unterbricht. Außerdem gibt es keine Ultrawide-Unterstützung, was auf entsprechenden Monitoren zu schwarzen Balken führt.
Sound und Musik
Der Soundtrack von Lost Records ist ein absolutes Highlight. Die Mischung aus authentischen 90er-Hits und original komponierter Musik trifft perfekt den nostalgischen Ton des Spiels. Besonders die Szenen, in denen die Mädchen zusammen Musik machen oder ihre Band „Bloom & Rage“ gründen, sind emotional sehr bewegend. Die Umgebungsgeräusche sind stimmig und verstärken die Atmosphäre der verschiedenen Schauplätze.
Die englische Sprachausgabe ist durchweg exzellent, mit überzeugenden Leistungen aller Sprecher. Deutsche Untertitel sind vorhanden und gut übersetzt, auch wenn eine deutsche Synchronisation schön gewesen wäre. Die Charaktere klingen authentisch und jede hat ihre eigene, unverwechselbare Stimme.
Tape 1 vs. Tape 2
Die Aufteilung in zwei Episoden funktioniert überraschend gut. Tape 1 „Bloom“ konzentriert sich darauf, die Charaktere und ihre Beziehungen aufzubauen, während es langsam die Geheimnisse der Vergangenheit andeutet. Mit etwa 6 Stunden Spielzeit fühlt es sich wie ein vollständiger erster Akt an, der mit einem fiesen Cliffhanger endet.
Tape 2 „Rage“ löst dann die aufgebauten Spannungen ein und bringt die übernatürlichen Elemente stärker zur Geltung. Ohne zu viel zu verraten: Die Auflösung ist emotional sehr kraftvoll, auch wenn nicht alle Mysterien restlos geklärt werden. Das Ende lässt durchaus Raum für Interpretationen, was bei einem Spiel über Erinnerungen und die subjektive Wahrnehmung der Vergangenheit sehr passend ist.
Vergleiche und Einordnung
Lost Records fühlt sich wie eine spirituelle Weiterentwicklung des ursprünglichen Life is Strange an – nur ohne die manchmal aufgesetzten Superkräfte. Stattdessen liegt der Fokus komplett auf den zwischenmenschlichen Beziehungen und dem Coming-of-Age-Aspekt. Fans von Life is Strange, aber auch von anderen narrativen Adventures wie The Quarry oder den Spielen von Telltale Games, werden hier voll auf ihre Kosten kommen.
Thematisch erinnert das Spiel an Stephen Kings „Stand by Me“ oder die Netflix-Serie „Stranger Things“ – ohne jedoch die Horror-Elemente zu übertreiben. Die Mischung aus Nostalgie, Freundschaft und übernatürlichen Elementen funktioniert hier besser als in vielen anderen Spielen des Genres.
Fazit
Lost Records: Bloom & Rage ist ein ordentliches narratives Adventure, das zeigt, dass DON’T NOD nach dem Verlust der Life is Strange-Rechte noch immer weiß, wie man emotionale Geschichten erzählt. Das Spiel behandelt universelle Themen wie Freundschaft und Erwachsenwerden mit der nötigen Sensibilität, ohne dabei zu sentimental zu werden.
Die Kamera-Mechanik ist eine nette Idee, die dem Gameplay eine eigene Note verleiht, auch wenn sie nicht ganz so innovativ ist, wie sie zunächst wirkt. Die Geschichte der vier Freundinnen ist größtenteils gut erzählt, leidet aber unter einem ungleichmäßigen Pacing und einer teilweise vorhersehbaren Handlung.
Technische Schwächen wie die langen Ladezeiten und fehlende Features trüben das Gesamtbild etwas. Auch das Preis-Leistungs-Verhältnis ist mit knapp 40 Euro für etwa 12 Stunden Spielzeit nicht gerade großzügig, besonders wenn man bedenkt, dass das Spiel in zwei Häppchen serviert wird.
Trotz dieser Einschränkungen ist Lost Records ein solides Spiel für Fans narrativer Adventures. Es erreicht zwar nicht ganz die Klasse des ursprünglichen Life is Strange, bietet aber genug emotionale Momente und interessante Charaktere, um die Spielzeit zu rechtfertigen. Wer bereit ist, über die technischen Schwächen hinwegzusehen und sich auf eine langsamere Erzählweise einzulassen, wird hier durchaus seinen Spaß haben.
Wertung: 8/10