Italien, 1508: Während Leonardo da Vinci seine Mona Lisa vollendet und Michelangelo die Sixtinische Kapelle bemalt, tobt zwischen Rom und Venedig ein erbitterter Machtkampf. Klingt nach einem perfekten Setting für ein Geschichtsbuch? Von wegen! Ludus Magnus Studio hat diese faszinierende Epoche genommen und sie in einen der ambitioniertesten kooperativen Dungeon Crawler der letzten Jahre verwandelt. Nova Aetas Renaissance verspricht nicht weniger als eine spielbare Alternative zur italienischen Renaissance – komplett mit magischen Artefakten, mystischen Kreaturen und vier Helden, die das Schicksal eines ganzen Kontinents in den Händen halten.
Nach unzähligen Stunden in den Gassen von Florenz und den Kanälen Venedigs kann ich sagen: Das ist weit mehr als nur ein hübsches Geschichtsspiel geworden. Aber der Reihe nach.
Mehr als nur ein Geschichtsbuch mit Würfeln
Das erste, was bei Nova Aetas Renaissance auffällt, ist der ungewöhnliche Mut zur historischen Authentizität. Während die meisten Fantasy-Brettspiele mit generischen Mittelalterwelten arbeiten, haben die italienischen Entwickler eine sehr konkrete Zeit gewählt: Den Italienkrieg von 1508, als Papst Julius II. die Liga von Cambrai gegen Venedig schmiedete.
Klingt trocken? Ist es nicht! Die Macher haben geschickt echte historische Ereignisse mit fantastischen Elementen verwoben. Da kämpft ihr gegen venezianische Söldner, während gleichzeitig antike Kreaturen durch die Ruinen römischer Aquädukte streifen. Luca Bernardini, der Archäologe im Entwicklerteam, hat ganze Arbeit geleistet – jede Straße, jedes Gebäude, jede Waffe wirkt authentisch recherchiert.
Das Herzstück: Wenn Zeit zur Waffe wird
Nova Aetas Renaissance lebt vom Horologium – einer mystischen Zeitmaschine, die das komplette Spielgeschehen orchestriert. Stellt euch vor, eure Aktionen werden nicht durch langweilige Initiativen bestimmt, sondern durch eine tickende Uhr, die unvorhersehbare Wendungen bringt.
Die Zeiger drehen sich konstant weiter und aktivieren dabei:
- Eure Helden in wechselnder Reihenfolge
- Zeitkritische Ereignisse, die eure Pläne durcheinanderbringen
- Eine ausgetüftelte Gegner-KI, die auf eure Bedrohung reagiert
- Umgebungseffekte und Zufallsereignisse
Das Geniale daran: Keine Partie läuft identisch ab. Während ihr in anderen Dungeon Crawlern schnell Routinen entwickelt, zwingt euch das Horologium zu ständiger Anpassung. Heute aktiviert sich zuerst der Magier, morgen der Kämpfer – und das verändert die komplette Taktik.
27 Wege nach Rom
Die Kampagnenstruktur ist das zweite Highlight. 27 nichtlineare Missionen klingen erstmal nach Standard-Kost, aber hier steckt ein durchdachtes Verzweigungssystem dahinter. Eure Entscheidungen haben echte Konsequenzen: Unterstützt ihr Rom gegen Venedig? Versucht ihr zwischen den Fronten zu lavieren? Jede Wahl öffnet andere Pfade und führt zu völlig verschiedenen Geschichten.
Besonders clever: Das Spiel wertet weder Sieg noch Niederlage – beide Ausgänge einer Mission führen zu interessanten Fortsetzungen. Verliert ihr eine Schlacht, entwickelt sich die Story nicht schlechter, sondern einfach anders. Das nimmt den Perfektionsdruck raus und macht Niederlagen zu spannenden Wendepunkten.
Das integrierte Save-System verdient eine extra Erwähnung. Endlich ein Kampagnenspiel, das versteht, dass nicht jede Spielgruppe wöchentlich zusammenkommt! Ihr könnt problemlos pausieren und Wochen später nahtlos weitermachen.
Helden mit Seele
Die vier Protagonisten sind keine austauschbaren Pappfiguren, sondern sorgfältig ausgearbeitete Charaktere mit eigenen Motivationen und Entwicklungswegen. Jeder Hero startet mit einer Grundklasse und kann sich im Verlauf in eine von zwei Richtungen spezialisieren.
Das Aufwertungssystem funktioniert herrlich organisch: Zwischen den Missionen trefft ihr Entscheidungen, die nicht nur eure Fähigkeiten verbessern, sondern auch die persönlichen Geschichten eurer Helden vorantreiben. Wer schon immer mal einen Renaissance-Söldner mit Gewissensbissen oder eine venezianische Magierin auf Rachezug spielen wollte, kommt hier voll auf seine Kosten.
Ausstattung zwischen Pracht und Pragmatismus
Die 90+ Miniaturen sind solide gearbeitet, ohne Kunstwerke zu sein. Wer seine Figuren gerne bemalt, bekommt brauchbares Material – Games Workshop-Qualität sollte man aber nicht erwarten. Die Details sind erkennbar, auch wenn manche Gesichter etwas unscharf geraten sind.
Die echten Stars sind die 3D-Gebäude und das modulare Spielbrett-System. Die Renaissance-Architektur kommt wunderbar zur Geltung, und die verschiedenen Hex-Tiles lassen sich zu abwechslungsreichen Schauplätzen kombinieren. Von den engen Gassen Florenz‘ bis zu den weitläufigen Plätzen Roms – jede Arena fühlt sich authentisch an.
Die Kartenflut (400+ Karten!) wirkt anfangs erschlagend, entpuppt sich aber als Segen. Waffen, Zauber, Ereignisse – alles ist liebevoll illustriert und textlich ausgeschmückt. Hier merkt man die italienische Sorgfalt für Details.
Wo Licht ist, da ist auch Schatten
Bei aller Begeisterung: Nova Aetas Renaissance ist kein perfektes Spiel. Die Regeln sind komplex – deutlich komplexer als nötig. Das Horologium-System ist genial, aber auch erklärungsbedürftig. Plant für die ersten Partien deutlich mehr Zeit ein, bis alle den Dreh raus haben.
Die KI der Gegner funktioniert über das Perilium-System, das eure wahrgenommene Bedrohung misst. Brillante Idee, aber in der Praxis manchmal schwer nachvollziehbar. Warum greift der Ork plötzlich den Heiler statt den Kämpfer an? Die Antwort steht irgendwo in den Regeln, aber nicht immer ist sie intuitiv.
Auch die Spieldauer ist ein Faktor: 90-180 Minuten pro Szenario sind realistisch, können aber bei unentschlossenen Gruppen auch mal länger werden. Wer Lust auf schnelle Runden hat, sollte woanders suchen.
Wertung und Empfehlung
Nova Aetas Renaissance ist ein mutiges, ungewöhnliches Spiel geworden. Die Mischung aus historischer Authentizität und Fantasy-Elementen funktioniert überraschend gut, das Horologium-System bringt frischen Wind in das Genre. Die verzweigten Kampagnen sorgen für enormen Wiederspielwert.
Allerdings ist das auch ein Spiel mit Ecken und Kanten. Die Komplexität schreckt Gelegenheitsspieler ab, und der stolze Preis von 120+ Euro will gut überlegt sein. Wer aber Lust auf ein tiefes, narratives Brettspielerlebnis hat und sich nicht vor längeren Regelerklärungen scheut, bekommt hier etwas Besonderes geboten.
Stärken:
- Einzigartiges Renaissance-Setting mit Fantasy-Touch
- Innovatives Horologium-System sorgt für Dynamik
- Verzweigte Kampagnen mit echten Konsequenzen
- Atmospheric dichtes Spielerlebnis
- Funktioniert solo und in der Gruppe
Schwächen:
- Regelkomplexität kann abschrecken
- Lange Spieldauer nicht jedermanns Sache
- Hoher Preis für Gelegenheitsspieler
- KI-Verhalten manchmal schwer nachvollziehbar
Meine Wertung: 7,5/10 – Ein faszinierendes Nischenerlebnis für Taktik-Fans und Geschichte-Liebhaber.
Nova Aetas Renaissance ist definitiv nichts für zwischendurch. Aber wer sich darauf einlässt, erlebt eine der originellsten Brettspiel-Kampagnen der letzten Jahre. Und wer weiß – vielleicht entdeckt ihr ja ein neues Lieblings-Setting abseits der üblichen Orks-und-Elfen-Welten.
Die Titan Pledge: Wenn mehr wirklich mehr ist
Da ich die Titan Pledge Early Bird 48H Version testen konnte, hatte ich das Vergnügen, Nova Aetas Renaissance in seiner opulentesten Form zu erleben. Und was soll ich sagen – hier wird wirklich nicht gekleckert, sondern ordentlich geklotzt!
Hyperion: Wenn Götter ins Spiel kommen
Die Hyperion-Erweiterung bringt mit der namensgebenden 155mm-Miniatur einen echten Koloss ins Spiel. Diese Figur ist nicht nur imposant anzuschauen, sondern verändert auch das Gameplay grundlegend. Plötzlich kämpft ihr nicht mehr nur gegen menschliche Söldner und mystische Kreaturen, sondern gegen göttliche Mächte aus der antiken Mythologie.
Die 11 zusätzlichen Miniaturen und 40+ neuen Karten erweitern das Grundspiel sinnvoll, ohne es zu überladen. Besonders gelungen sind die drei Lodge-Räume, die euren Helden neue taktische Möglichkeiten eröffnen. Das Eracleto-Pet ist ein nettes Detail, das zeigt, wie sehr sich die Entwickler um Atmosphäre bemühen.
Draco: Drachenjaagd in der Renaissance
Der Draco ist mit seiner über 250mm Flügelspannweite ein echtes Highlight. Diese Erweiterung bringt eine Mini-Kampagne mit drei Hunt-Missionen mit, die sich nahtlos in das Hauptspiel integrieren lassen. Der Kampf gegen den Drachen fühlt sich wie der Höhepunkt eines Fantasy-Films an – episch, gefährlich und unvergesslich.
Clever gelöst: Die Draco-Erweiterung funktioniert auch als Crossover mit Black Rose Wars, einem anderen Ludus Magnus-Titel. So bekommt ihr mehr Wert für euer Geld und könnt den imposanten Drachen in verschiedenen Spielsystemen einsetzen.
Mediceo: Der Söldner auf der Flucht
Die Mediceo-Erweiterung fügt einen fünften spielbaren Helden hinzu, der thematisch perfekt zur düsteren Renaissance-Atmosphäre passt. Als Söldner auf der Flucht vor seiner Vergangenheit bringt er nicht nur neue Spielmechaniken mit, sondern auch eine packende persönliche Geschichte.
Stretch Goals: Die Kirsche auf der Torte
Die zahlreichen freigeschalteten Stretch Goals der Kickstarter-Kampagne verwandeln Nova Aetas Renaissance von einem umfangreichen Spiel in ein regelrechtes Brett-Gaming-Ereignis. Zusätzliche Monster, alternative Miniaturen, weitere Karten – hier wurde wirklich an alles gedacht.
Besonders beeindruckend ist die schiere Materialfülle: Über 100 Miniaturen, 600+ Karten und dutzende 3D-Elemente machen aus jeder Partie ein visuelles Spektakel. Allerdings braucht ihr auch entsprechend viel Platz zur Lagerung – mein Regal ächzt unter dem Gewicht der kompletten Titan Pledge!
Lohnt sich der Aufpreis?
Die Titan Pledge kostet deutlich mehr als das Grundspiel, aber für Fans des Genres ist sie jeden Euro wert. Die Erweiterungen fühlen sich nicht wie nachgeschobener Content an, sondern wie integrale Bestandteile eines größeren Ganzen. Wer Nova Aetas Renaissance liebt, wird die zusätzlichen Inhalte verschlingen.
Allerdings solltet ihr euch bewusst sein: Mit den Erweiterungen wird das ohnehin schon komplexe Spiel noch umfangreicher. Plant definitiv mehr Zeit für Regelerklärungen und längere Spielsessions ein.
Quando in Roma… würfelt wie die Römer!