Das ukrainische Entwicklerstudio Frogwares hat sich über die Jahre hinweg einen Namen als Spezialist für Detektivspiele gemacht. Bereits seit 2002 bringen sie uns regelmäßig in die Rolle des berühmtesten Ermittlers aller Zeiten und haben dabei das Detective-Adventure-Genre maßgeblich geprägt. Mit Titeln wie Sherlock Holmes: Crimes and Punishments oder dem 2019 erschienenen The Sinking City bewiesen die Entwickler immer wieder ihr Gespür für atmosphärische Ermittlungsabenteuer. Nun präsentieren sie mit Sherlock Holmes Chapter One einen völlig neuen Ansatz: Statt dem altbekannten, etablierten Meisterdetektiv erleben wir einen jungen, unerfahrenen Holmes, der seine ersten Schritte als Ermittler unternimmt. Schauplatz ist nicht das neblige London, sondern die sonnenverwöhnte Mittelmeerinsel Cordona. Nach einigen Verschiebungen ist Chapter One nun endlich erschienen und wir haben den Titel ausgiebig getestet.
Story
Die Geschichte von Chapter One führt uns in das Jahr 1880 und damit etwa zehn Jahre vor die klassischen Holmes-Abenteuer. Der junge Sherlock Holmes kehrt nach langer Abwesenheit auf seine Heimatinsel Cordona zurück – begleitet von seinem Jugendfreund Jon, der als eine Art früher Watson fungiert. Was Holmes auf die Insel zurückbringt, sind dunkle Erinnerungen an den Tod seiner Mutter Violet, der sich hier vor Jahren ereignete. Offiziell starb sie bei einem Unfall, doch Sherlock plagen Zweifel an dieser Version der Ereignisse.
Cordona selbst präsentiert sich als facettenreiche Mittelmeerinsel unter britischer Herrschaft, geprägt von sozialen Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Reiche Kolonialherren leben hier neben einheimischen Fischern, italienischen Einwanderern und anderen Volksgruppen, was für reichlich gesellschaftliche Reibungspunkte sorgt. Diese Konstellation nutzen die Entwickler geschickt, um nicht nur spannende Kriminalfälle zu konstruieren, sondern auch gesellschaftskritische Themen wie Kolonialismus, Rassismus und Klassenkampf anzusprechen.
Besonders gelungen ist die Charakterisierung des jungen Holmes. Statt des selbstsicheren Genies der späteren Jahre erleben wir hier einen noch suchenden, teilweise unsicheren jungen Mann, der mit seinen eigenen Dämonen kämpft. Die Beziehung zu Jon ist dabei herzstück der emotionalen Erzählung – auch wenn sich schnell herausstellt, dass mit diesem vermeintlichen Jugendfreund nicht alles so ist, wie es zunächst scheint.
Grafik
Optisch präsentiert sich Chapter One als klarer Fortschritt gegenüber den Vorgängern. Die Insel Cordona wurde mit enormer Liebe zum Detail gestaltet und strahlt durch ihre mediterrane Atmosphäre eine völlig andere Stimmung aus als die düsteren London-Kulissen der früheren Spiele. Sonnendurchflutete Plätze wechseln sich ab mit schattigen Gassen, prächtige Villen stehen neben heruntergekommenen Arbeitervierteln – die Vielfalt der Schauplätze ist beeindruckend.
Die Charaktermodelle wirken authentisch und lebendig, wobei besonders die Gesichtsanimationen überzeugen können. Sherlock selbst ist als charismatischer junger Mann gelungen dargestellt, auch wenn sein jugendliches Aussehen durchaus gewöhnungsbedürftig ist für Fans, die den Holmes der Vorgängerspiele gewohnt sind. Die verschiedenen NPCs sind individuell gestaltet und spiegeln die Vielfalt der Inselbevölkerung wider.
Technisch läuft das Spiel auf der PlayStation 5 und Xbox Series X/S größtenteils stabil, allerdings sind zum Release noch einige Bugs und Performance-Probleme zu verzeichnen. Besonders auf der PC-Version kommt es gelegentlich zu Framerate-Einbrüchen und kleineren grafischen Glitches. Die Last-Gen-Konsolen kämpfen stellenweise mit längeren Ladezeiten, was den Spielfluss etwas bremst.
Sound
Akustisch bietet Chapter One eine stimmungsvolle Kulisse. Der Soundtrack greift mediterrane Einflüsse auf und verleiht der Insel Cordona eine authentische Atmosphäre. Besonders gelungen sind die ruhigeren, melancholischen Passagen, die Holmes‘ innere Zerrissenheit unterstreichen. In spannenden Ermittlungsmomenten weiß die Musik gezielt Akzente zu setzen, ohne dabei aufdringlich zu werden.
Die deutsche Synchronisation bewegt sich auf ordentlichem Niveau, auch wenn sie nicht ganz an die Klasse von Quantic Dreams Produktionen heranreicht. Sherlock wird von einem jungen, dynamischen Sprecher verkörpert, der dem Charakter gut steht. Jon als mysteriöser Begleiter ist ebenfalls stimmig vertont. Die englische Originalfassung steht selbstverständlich zur Verfügung und bietet für Puristen die authentischere Erfahrung.
Die Umgebungsgeräusche tragen erheblich zur Atmosphäre bei. Möwen kreischen über dem Hafen, Schritte hallen durch enge Gassen, Gespräche verschiedener Bevölkerungsgruppen in ihren jeweiligen Dialekten schaffen ein lebendiges Stadtbild. Hier merkt man die langjährige Erfahrung von Frogwares beim Erschaffen atmosphärischer Spielwelten.
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2
Gameplay
Das Herzstück von Chapter One bildet das überarbeitete Ermittlungssystem, das deutlich offener und freier gestaltet ist als in den Vorgängern. Statt linearer Rätselketten können Spieler nun verschiedene Lösungsansätze verfolgen und dabei auch völlig falsche Schlüsse ziehen. Das Mind Palace-System wurde erweitert und ermöglicht es, Hinweise auf verschiedene Weise miteinander zu verknüpfen. Dabei ist es durchaus möglich, dass man sich in eine falsche Richtung verrennt und erst später merkt, dass man einen wichtigen Aspekt übersehen hat.
Besonders innovativ ist das neue Konzentrationssystem. In bestimmten Situationen kann Holmes seine Umgebung verlangsamt wahrnehmen und dabei Details entdecken, die ihm normalerweise entgehen würden. Das funktioniert sowohl bei der Spurensuche als auch in den seltenen Action-Sequenzen, wo es Holmes ermöglicht, Gegnern auszuweichen oder präzise zuzuschlagen. Gewalt ist dabei nie das primäre Mittel – Holmes setzt lieber auf Betäubung als auf tödliche Konfrontation.
Das Verkleidungssystem eröffnet neue investigative Möglichkeiten. Je nach gewähltem Outfit reagieren NPCs unterschiedlich auf Holmes und geben andere Informationen preis. Als schicker Gentleman kommt man in gehobene Kreise, als Arbeiter erfährt man die Sorgen der einfachen Bevölkerung. Dieses System funktioniert überraschend gut und motiviert dazu, verschiedene Herangehensweisen auszuprobieren.
Die Insel Cordona kann weitgehend frei erkundet werden, was für Sherlock Holmes-Verhältnisse eine echte Neuerung darstellt. Überall gibt es kleinere Mysterien zu entdecken, Sammelobjekte zu finden oder spontane Begegnungen zu erleben. Diese Offenheit ist jedoch auch Fluch und Segen zugleich. Einerseits bietet sie mehr Freiheit und Immersion, andererseits kann sie gerade Einsteiger überfordern, die nicht wissen, wo sie als nächstes suchen sollen.
Die Hauptfälle sind komplex und vielschichtig aufgebaut. Statt einfacher Ja/Nein-Antworten gibt es oft mehrere plausible Lösungen, die alle ihre Berechtigung haben können. Das sorgt für hohen Wiederspielwert, da man neugierig wird, wie sich andere Entscheidungen auswirken. Allerdings führt diese Offenheit auch dazu, dass manche Fälle etwas zäh werden können, wenn man nicht den richtigen Ansatzpunkt findet.
Die Steuerung geht nach einer kurzen Eingewöhnungsphase gut von der Hand. Mit R2 aktiviert man den Ermittlungsmodus und kann interessante Objekte markieren, mit L2 öffnet sich das Mind Palace-Menü. Die Kameraführung ist meist unproblematisch, gelegentlich kämpft man jedoch in engen Innenräumen mit dem Blickwinkel.
Ein besonderes Lob verdient die Tatsache, dass es keine „Game Over“-Bildschirme gibt. Selbst völlig falsche Schlussfolgerungen führen die Geschichte weiter und können später korrigiert werden. Das nimmt den Druck raus und ermutigt zum Experimentieren. Gleichzeitig kann es aber auch Spieler frustrieren, die gerne eine klare Rückmeldung hätten, ob sie auf dem richtigen Weg sind.
Die verschiedenen Nebenmissionen sind unterschiedlich gelungen. Während einige kleine, charmante Geschichten erzählen, fühlen sich andere eher wie Füllmaterial an. Die Banditenlager, die über die Insel verstreut sind und bekämpft werden können, wirken etwas deplatziert in einem Sherlock Holmes-Spiel und erinnern zu stark an typische Open-World-Aufgaben aus anderen Genres.
Fazit
Mit Chapter One ist Frogwares ein mutiger Neuanfang gelungen, der das Sherlock Holmes-Franchise in eine interessante neue Richtung lenkt. Der junge, noch suchende Holmes ist eine erfrischende Alternative zum allwissenden Meisterdetektiv, und die mediterrane Inselkulisse bietet eine willkommene Abwechslung zu den gewohnten London-Schauplätzen. Das überarbeitete Ermittlungssystem mit seiner Offenheit und den multiplen Lösungsmöglichkeiten ist ein klarer Fortschritt und macht Lust aufs Experimentieren.
Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass dieser offene Ansatz seine Tücken hat. Gerade Einsteiger könnten sich überfordert fühlen, und nicht alle Open-World-Elemente fügen sich stimmig in das Sherlock Holmes-Universum ein. Technische Probleme zum Release trüben zudem den Gesamteindruck.
Trotz dieser Schwächen ist Chapter One definitiv ein Spiel, das Detective-Adventure-Fans und Sherlock Holmes-Liebhaber erleben sollten. Wer bereit ist, sich auf den neuen Ansatz einzulassen und über kleinere technische Macken hinwegzusehen, wird mit einer atmosphärischen, komplexen Ermittlungserfahrung belohnt. Frogwares hat bewiesen, dass sie auch nach fast 20 Jahren im Genre noch überraschen können – und das ist bei einem so traditionsreichen Franchise wie Sherlock Holmes keine Selbstverständlichkeit.