Wenn ein polnisches Entwicklerstudio ein Rollenspiel ankündigt, das im Warschau des Jahres 1905 spielt und dabei Detektivarbeit mit okkulten Elementen verbindet, dann horcht man auf. Fool’s Theory, das Studio das bereits mit Seven: The Days Long Gone auf sich aufmerksam machte und aktuell am Remake von The Witcher arbeitet, präsentiert mit The Thaumaturge ein ungewöhnliches Werk. Das Setting allein ist schon faszinierend genug – eine multikulturelle Metropole am Scheideweg der Geschichte, zerrissen zwischen polnischem Nationalismus und russischer Besatzung, bevölkert von Menschen unterschiedlichster Herkunft und geprägt von sozialen Unruhen. Doch kann das Spiel den hohen Erwartungen gerecht werden, die ein derart interessantes Szenario weckt?
Dämonen der Vergangenheit
The Thaumaturge versetzt uns in die Rolle von Wiktor Szulski, einem Mann der nach langen Jahren der Abwesenheit ins Warschau von 1905 zurückkehrt. Der Anlass ist tragisch – sein Vater Stanisław ist unter mysteriösen Umständen verstorben. Wiktor ist ein Thaumaturg, ein Mensch mit der seltenen und belastenden Gabe, sogenannte Salutoren wahrzunehmen. Diese dämonischen Wesen sind für normale Menschen unsichtbar und manifestieren sich an den Lastern der Menschen – Stolz, Zorn, Gier oder Angst. Sie nähren sich von diesen Schwächen und treiben ihre Träger noch tiefer in ihre persönlichen Abgründe.
Als Thaumaturg kann Wiktor diese Kreaturen nicht nur sehen, sondern sie auch seinem Willen unterwerfen und ihre Kräfte für sich nutzen. Das klingt nach einer mächtigen Gabe, ist aber zugleich eine enorme psychische Belastung. Normalerweise kann ein Thaumaturg nur einen einzigen Salutor an sich binden, ohne dem Wahnsinn zu verfallen. Hier kommt Rasputin ins Spiel – ja, der berühmte Wanderprediger – der Wiktor durch Hypnose und esoterische Praktiken dabei hilft, mehrere dieser Wesen zu kontrollieren. Die Präsenz historischer Figuren verleiht dem Spiel zusätzliche Authentizität und zeigt, wie geschickt die Entwickler historische Fakten mit Fantasy-Elementen verweben.
Die Geschichte selbst nimmt schnell an Fahrt auf. Was als persönliche Suche nach Antworten über den Tod des Vaters beginnt, entwickelt sich rasch zu einem vielschichtigen Plot voller Intrigen, politischer Machenschaften und dunkler Geheimnisse. Warschau ist zu dieser Zeit ein Pulverfass – die Stadt leidet unter russischer Unterdrückung, es brodelt in allen gesellschaftlichen Schichten und die verschiedenen Bevölkerungsgruppen stehen sich oft feindlich gegenüber. Russische Soldaten patrouillieren durch die Straßen, polnische Widerstandskämpfer planen im Verborgenen, jüdische Händler versuchen in dieser aufgeheizten Atmosphäre zu überleben und die Oberschicht feiert dekadente Soirées, während in den Armenvierteln das Elend regiert.
Zwischen Eleganz und Elend
Das Warschau von The Thaumaturge ist mehr als nur eine Kulisse – es ist ein lebendiger, atmender Organismus. Die Entwickler haben enorm viel Liebe ins Detail gesteckt und eine Stadt erschaffen, die sowohl historisch fundiert als auch atmosphärisch dicht ist. Von den prachtvollen Salons der Reichen bis zu den heruntergekommenen Gassen des Praga-Bezirks spürt man in jeder Ecke die Spannung dieser Epoche.
Die isometrische Perspektive mag auf den ersten Blick altmodisch wirken, erweist sich aber als perfekte Wahl für dieses Spiel. Sie ermöglicht detaillierte Umgebungen und lässt den Spieler die sorgfältig gestalteten Schauplätze in Ruhe betrachten. Dank der Unreal Engine 5 präsentiert sich The Thaumaturge visuell überaus ansprechend. Die Beleuchtung ist atmosphärisch gelungen, Licht und Schatten spielen wunderbar zusammen und erschaffen eine düstere, fast bedrückende Stimmung die perfekt zum Setting passt.
Allerdings zeigen sich auch die Grenzen des Budgets. In den zahlreichen Dialogszenen, bei denen wir die Charaktere aus der Nähe sehen, wirken Animationen und Mimik oft hölzern. Die Gesichter bleiben teilweise erstaunlich starr und man merkt, dass hier gespart werden musste. Das ist schade, denn gerade in einem so story-lastigen Spiel würde eine ausdrucksstärkere Darstellung der Emotionen die Wirkung der Szenen verstärken. Die Inszenierung der Zwischensequenzen könnte ebenfalls packender sein – es fehlt manchmal an Tempo, dynamischen Perspektiven und dramaturgisch sinnvollem Einsatz der Musik.
Klangwelten einer vergangenen Zeit
Beim Sound zeigt sich The Thaumaturge von einer deutlich besseren Seite. Der Soundtrack ist hervorragend komponiert und trifft immer den richtigen Ton – mal melancholisch und nachdenklich, mal bedrohlich und düster. Die Musik unterstreicht die emotionale Tiefe der Geschichte ohne sich dabei in den Vordergrund zu drängen. Besonders beeindruckend ist die Geräuschkulisse, die Warschau zum Leben erweckt: das Klappern von Pferdehufen auf Kopfsteinpflaster, das Gemurmel der Passanten, knarrende Türen alter Häuser und das ferne Rufen der Straßenhändler. Mit Kopfhörern gespielt wird die Atmosphäre noch intensiver und man taucht regelrecht in diese Welt ein.
Die englische Sprachausgabe ist insgesamt solide, wobei die Qualität schwankt. Die Hauptcharaktere wie Wiktor und Rasputin werden von ihren Sprechern hervorragend zum Leben erweckt, während manche Nebenfiguren leider deutlich schwächer vertont sind. Besonders irritierend sind gelegentliche Inkonsistenzen bei den Akzenten – wenn eine Figur betont, stolz in Warschau geboren zu sein, aber dabei einen amerikanischen Akzent hat, reißt das aus der Immersion. Positiv hervorzuheben ist, dass das Spiel auch mit polnischer Sprachausgabe gespielt werden kann, was dem authentischen Flair natürlich zugutekommt.
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Die Kunst der Thaumaturgie
Das Gameplay von The Thaumaturge ruht auf mehreren Säulen. Zum einen haben wir die Detektivarbeit, bei der Wiktor seine besonderen Fähigkeiten einsetzt um Hinweise aufzuspüren. Mit einem Fingerschnippen aktiviert er seine Tiefensicht und kann damit Spuren von Emotionen an Orten und Gegenständen wahrnehmen. Das funktioniert ähnlich wie in vielen modernen Spielen – man scannt die Umgebung, findet relevante Objekte und Wiktor zieht dann automatisch seine Schlüsse daraus. Es wäre schön gewesen, wenn die Spieler selbst mehr gefordert wären beim Zusammensetzen der Hinweise, aber für den narrativen Fluss funktioniert diese Lösung gut.
In der offenen Spielwelt gibt es zahlreiche Gegenstände mit denen man interagieren kann. Zeitungen, Dokumente, Magazine und persönliche Gegenstände erzählen Geschichten und gewähren Einblicke in das Leben der Menschen. Diese Erkundung lohnt sich nicht nur für Atmosphäre-Junkies, sondern bringt auch Erfahrungspunkte und kann sogar neue Nebenquests freischalten. The Thaumaturge ist zwar im Kern linear aufgebaut, lässt aber genug Raum für Exploration und macht es dem Spieler frei, in welcher Reihenfolge man bestimmte Orte besucht.
Das Herzstück bilden jedoch die moralischen Entscheidungen. The Thaumaturge konfrontiert uns immer wieder mit Situationen, in denen es keine eindeutig richtige Antwort gibt. Wiktor ist kein strahlender Held, sondern ein von seiner Vergangenheit getriebener Mann, der zwischen Loyalität, Ehrgeiz und Schuldgefühlen schwankt. Seine wichtigste Schwäche ist sein Stolz – und der Spieler kann entscheiden, ob er diesem nachgibt oder ihn kontrolliert. Dialogoptionen die mit dem Stolz-Symbol gekennzeichnet sind, verstärken diese Eigenschaft und eröffnen dadurch neue Gesprächswege. Die Salutoren spielen auch außerhalb der Kämpfe eine Rolle – mit ihrer Hilfe kann Wiktor gezielt auf die Schwächen anderer Menschen eingehen, sie manipulieren oder von Kämpfen abbringen.
Rundenbasierte Scharmützel
Die Kämpfe in The Thaumaturge sind rundenbasiert, aber keineswegs altbacken. Das System erinnert an klassische JRPGs, ist aber clever durchdacht. Auf dem Bildschirm sehen wir eine Zeitleiste die anzeigt, wann welche Aktion ausgeführt wird. Sowohl Wiktor als auch seine Salutoren können in jeder Runde agieren, wobei man zwischen verschiedenen Salutoren wechseln kann. Das Ziel ist es, den Fokus der Gegner zu brechen um sie dann mit schweren Angriffen niederzustrecken.
Jeder Salutor verkörpert eine menschliche Schwäche und bringt spezielle Fähigkeiten mit. Upyr steht für den Stolz und kann Wiktor im Kampf heilen während er gleichzeitig Schaden anrichtet. Andere Salutoren wie der Hirn-Salutor Lelek oder der Zungen-Salutor bieten völlig andere taktische Möglichkeiten. Die vier Dimensionen der Thaumaturgie – Herz, Tat, Verstand und Wort – bestimmen welche Fähigkeiten Wiktor zur Verfügung stehen und wie er sich entwickelt.
Das Kampfsystem setzt auf Combos und vorausschauendes Planen. Wiktors Angriffe verketten sich zu Kombinationen, wobei Folgeaktionen nur für eine begrenzte Zeit verfügbar sind. Man muss also mehrere Züge im Voraus denken und die Fähigkeiten von Wiktor und seinen Salutoren geschickt kombinieren. Besonders wichtig ist es, den richtigen Salutor gegen die richtige Gegnerschwäche einzusetzen – erkennbar an einem grünen Symbol bei der Auswahl.
Vor jedem Kampf kann man seine Angriffe mit Zusatzeffekten belegen, die man durch das aufleveln im Talentbaum freischaltet. Das macht das System recht komplex und belohnt strategisches Denken. Auf den höheren Schwierigkeitsgraden sind die Kämpfe durchaus anspruchsvoll und wer die Gegner auf die leichte Schulter nimmt, wird schnell eines Besseren belehrt. Positiv ist, dass sich der Schwierigkeitsgrad jederzeit anpassen lässt.
Allerdings nutzt sich das Kampfsystem mit der Zeit ab. Viele Standardkämpfe laufen nach ähnlichem Muster ab und die Balance zwischen normalen Gegnern und Bossgegnern ist nicht immer stimmig. Manche Kämpfe sind zu leicht, andere plötzlich frustrierend schwer. Eine feinere Abstimmung hätte hier gutgetan. Zudem fühlt sich die Häufigkeit der Kämpfe manchmal störend an – sie wirken eher wie eine Auflockerung zwischen den narrativen Passagen, als dass sie wirklich im Zentrum stünden.
Ein Spiel der Konsequenzen
Was The Thaumaturge besonders macht, ist das Gefühl dass Entscheidungen tatsächlich Gewicht haben. Die Verzweigungen in der Story sind keine Illusion – verschiedene Entscheidungen führen zu erkennbar unterschiedlichen Konsequenzen. Beziehungen zu anderen Charakteren verändern sich je nachdem wie man mit ihnen umgeht, bestimmte Questverläufe können komplett anders ausgehen und es gibt mehrere Enden. Der Wiederspielwert ist durchaus gegeben, auch wenn eine Partie bereits zwischen 15 und 20 Stunden dauern kann.
Die Nebenquests sind ebenfalls größtenteils gelungen und nicht nur generisches Füllmaterial. Viele davon bestehen aus mehreren Missionen und erzählen eigene kleine Geschichten, die oft mit der Haupthandlung verwoben sind. Man merkt, dass die Entwickler versucht haben, jeder Quest eine gewisse Bedeutung zu geben. Natürlich wiederholen sich mit der Zeit gewisse Muster, aber das dauert eine ganze Weile bis dieser Effekt wirklich stört.
Technische Schwächen
So atmosphärisch The Thaumaturge auch ist – technisch zeigt das Spiel leider einige Schwächen. Es gibt kleinere Bugs, etwa bei Animationen oder in der Kollisionsabfrage. Gelegentlich kommt es nach Zwischensequenzen zu Performance-Einbrüchen und manche Texturen wirken unscharf. Diese Probleme sind nicht gravierend genug um das Spielerlebnis ernsthaft zu beeinträchtigen, können aber durchaus aus der sonst dichten Atmosphäre reißen. Hier merkt man deutlich, dass kein AAA-Budget zur Verfügung stand. Mit einem Preis von rund 35 Euro ist The Thaumaturge aber auch fair kalkuliert.
Fazit zu The Thaumaturge
The Thaumaturge ist ein mutiges Spiel, das sich wohltuend vom Mainstream abhebt. Das Setting ist unverbraucht und faszinierend, die Geschichte komplex und vielschichtig, die moralischen Dilemmata fordern zum Nachdenken auf. Fool’s Theory hat bewiesen, dass sie erzählerisches Talent besitzen und atmosphärisch dichte Welten erschaffen können. Das historische Warschau von 1905 wird mit enormer Detailliebe zum Leben erweckt und die Verschmelzung von Historie und Fantasy funktioniert überraschend gut.
Die Schwächen liegen hauptsächlich im begrenzten Budget begründet. Technische Unzulänglichkeiten, hölzerne Animationen in Dialogszenen und ein Kampfsystem das sich mit der Zeit abnutzt trüben den ansonsten positiven Eindruck etwas. Auch die Detektivarbeit hätte spielerisch fordernder sein können. Dennoch überwiegen die Stärken deutlich – vor allem für Spieler die Wert auf starke Geschichten, Atmosphäre und bedeutungsvolle Entscheidungen legen.
The Thaumaturge ist kein Spiel für jeden. Wer bombastische Action und perfekte Inszenierung erwartet, wird enttäuscht sein. Wer aber bereit ist, sich auf ein ungewöhnliches Setting einzulassen, wer narrative Tiefe schätzt und gerne in fremde Welten eintaucht, der findet hier ein kleines Juwel. Es ist ein Spiel das leise daherkommt, aber mit umso größerer Intensität wirkt. Ein Geheimtipp für Rollenspielfans die auch mal abseits ausgetretener Pfade wandern möchten und sich nicht an kleineren technischen Macken stören. Fool’s Theory hat mit The Thaumaturge ein starkes Argument dafür geliefert, dass sie das Witcher-Remake in guten Händen haben dürften.









