Das polnische Entwicklerstudio CD Projekt RED wagt sich mit The Witcher an ein ehrgeiziges Projekt. Basierend auf der gleichnamigen Romanreihe von Andrzej Sapkowski entführt uns das Action-Rollenspiel in eine düstere mittelalterliche Fantasy-Welt voller Intrigen, moralischer Grauzonen und gefährlicher Monster. Ob die Umsetzung der literarischen Vorlage gelingt und wie sich das Spiel gegen die etablierte Konkurrenz im RPG-Genre behaupten kann, klären wir in unserem ausführlichen Test.
Geralt von Riva kehrt zurück
Wir schlüpfen in die Rolle von Geralt von Riva, einem sogenannten Hexer (im Original Witcher genannt). Hexer sind durch alchemistische Prozesse mutierte Monsterjäger, die übernatürliche Fähigkeiten besitzen und gegen Bezahlung der normalen Bevölkerung dabei helfen, sich gegen die zahlreichen Kreaturen zu wehren, die das Land unsicher machen. Doch Geralt hat ein Problem – er leidet unter Amnesie und kann sich nicht an seine Vergangenheit erinnern. Als mysteriöse Assassinen die Festung Kaer Morhen überfallen, wo Geralt bei seinen Hexer-Brüdern Zuflucht gefunden hat, und dabei wertvolle Geheimnisse der Hexer stehlen, beginnt eine Reise die uns quer durch die Königreiche führt.
Die Geschichte entwickelt sich zu einem komplexen Geflecht aus politischen Machtspielen, rassistischen Konflikten zwischen Menschen und Nicht-Menschen sowie mystischen Bedrohungen. Dabei ist besonders bemerkenswert, dass die Entwickler es schaffen, die düstere und moralisch ambivalente Atmosphäre der Buchvorlage einzufangen. Es gibt kaum klassische Gut-Böse-Schemata, stattdessen bewegt man sich permanent in ethischen Grauzonen. Die Entscheidungen die man trifft haben oft weitreichende Konsequenzen, die erst Stunden später sichtbar werden.
Kämpfen zwischen Taktik und Timing
Das Kampfsystem von The Witcher unterscheidet sich deutlich von dem, was man aus anderen Action-Rollenspielen gewohnt ist. Geralt nutzt zwei unterschiedliche Schwerter – ein Stahlschwert für menschliche Gegner und ein Silberschwert für Monster und übernatürliche Kreaturen. Das Wechseln zwischen beiden Waffen geschieht schnell über ein Radialmenü und sollte gut überlegt sein, denn die falsche Waffe verursacht deutlich weniger Schaden.
Der eigentliche Kampfablauf basiert auf einem Rhythmus-System. Mit der linken Maustaste startet man einen Angriff, wartet dann auf einen visuellen Hinweis (der Mauszeiger beginnt zu glühen) und klickt erneut, um die nächste Attacke in einer Combo auszuführen. Dabei stehen drei unterschiedliche Kampfstile zur Verfügung: Der schnelle Stil eignet sich hervorragend gegen einzelne, agile Gegner. Der starke Stil kommt gegen gepanzerte oder besonders robuste Feinde zum Einsatz. Der Gruppenstil schließlich erlaubt es, mehrere Widersacher gleichzeitig in Schach zu halten. Das klingt zunächst etwas gewöhnungsbedürftig und tatsächlich braucht es einige Zeit, bis man den Rhythmus verinnerlicht hat. Ist das Timing erst einmal im Kopf, entwickelt sich ein durchaus befriedigender Kampffluss, auch wenn die Steuerung gelegentlich etwas hakelig wirkt.
Zusätzlich zum Schwertkampf beherrscht Geralt fünf verschiedene Zeichen – einfache Zauber die taktische Optionen bieten. Aard stößt Gegner zurück oder zerstört Hindernisse, Igni entfacht Flammen, Yrden erschafft magische Fallen, Quen erzeugt einen Schutzschild und Axii verwirrt Feinde oder beeinflusst Gespräche. Diese Zeichen sind essentiell für den Erfolg, besonders gegen stärkere Gegner oder Gruppen. Wer sich ausschließlich auf seine Klingen verlässt, wird schnell frustriert sein.
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Alchemie als Schlüssel zum Erfolg
Ein zentraler Gameplay-Aspekt ist das umfangreiche Alchemie-System. Geralt kann aus gesammelten Kräutern, Monsterteilen und anderen Zutaten Tränke, Öle und Bomben herstellen. Die Vorbereitung auf Kämpfe ist dabei extrem wichtig – wer beispielsweise gegen einen Werwolf antreten möchte, sollte sich vorher über dessen Schwächen informieren, die passenden Öle auf die Waffe auftragen und entsprechende Tränke zu sich nehmen. Diese Alchemie-Komponente verleiht dem Spiel eine taktische Tiefe, die man so selten findet. Man kann nicht einfach blindlings in jeden Kampf stürmen, sondern muss sich vorbereiten, recherchieren und die richtigen Mittel wählen.
Allerdings hat dieses System auch seine Tücken. Tränke haben nicht nur positive Effekte, sondern erhöhen auch Geralts Toxizität. Zu viele Tränke gleichzeitig können den Hexer vergiften und im schlimmsten Fall töten. Das macht Ressourcenmanagement zu einem wichtigen Faktor. Zudem können Tränke nur während der Meditation eingenommen werden – mitten im Kampf lässt sich nichts nachladen. Das mag realistisch sein, kann aber auch frustrierend wirken, wenn man sich falsch vorbereitet hat.
Eine Welt voller Leben und Details
The Witcher präsentiert sich optisch auf einem hohen Niveau. Die Umgebungen sind detailliert gestaltet und transportieren die mittelalterliche Fantasy-Atmosphäre überzeugend. Ob die Slums von Wyzima, die idyllischen Felder des Umlandes oder die nebelverhangenen Sümpfe – jede Region hat ihren eigenen Charakter. Besonders beeindruckend ist der Tag-Nacht-Zyklus, der nicht nur kosmetischer Natur ist. Nachts tauchen andere Monster auf als tagsüber, manche Händler haben geschlossen und bestimmte Quests lassen sich nur zu bestimmten Tageszeiten erledigen.
Die Charaktermodelle wirken durchweg stimmig, auch wenn die Mimik manchmal etwas steif erscheint. Dafür haben die Entwickler enorm viel Liebe ins Detail gesteckt. NPCs folgen ihren eigenen Tagesabläufen, Wachen patrouillieren durch die Straßen und in den Tavernen sitzen Gäste beim Kartenspiel zusammen. Die Welt fühlt sich lebendig an, auch wenn man gelegentlich auf die üblichen Probleme von Open-World-Spielen stößt – identische Gesichter bei Statisten oder sich wiederholende Animationen.
Technisch läuft das Spiel auf aktueller Hardware größtenteils flüssig, wobei in besonders belebten Gebieten die Framerate durchaus mal einbrechen kann. Die Ladezeiten zwischen den verschiedenen Gebieten sind akzeptabel, wenn auch nicht besonders kurz. Grafisch kann The Witcher definitiv mit der Konkurrenz mithalten und setzt mit seiner stimmungsvollen Beleuchtung und den atmosphärischen Wettereffekten durchaus Akzente.
Klang und Atmosphäre
Musikalisch unterstreicht The Witcher seine düstere Atmosphäre mit einem gelungenen Soundtrack, der slawische Einflüsse einbringt und perfekt zum Setting passt. Ruhige, melancholische Stücke begleiten die Erkundung, während dramatische Klänge die Kämpfe untermalen. Die Musikauswahl trägt erheblich zur Gesamtatmosphäre bei und schafft es, die fremdartige Fantasy-Welt greifbarer zu machen.
Die deutsche Synchronisation bewegt sich auf solidem Niveau. Die Sprecher leisten insgesamt gute Arbeit, auch wenn manche Dialoge etwas hölzern klingen. Geralt selbst wird überzeugend vertont und transportiert die raue, zynische Art der Figur gut. Die Soundeffekte, vom Klirren der Schwerter bis zu den Schreien der Monster, fügen sich stimmig ins Gesamtbild ein.
Entscheidungen mit Konsequenzen
Eine der größten Stärken von The Witcher liegt im Questdesign und dem Entscheidungssystem. Die Hauptstory erstreckt sich über mehrere Kapitel und bietet zahlreiche Wendungen. Dazwischen gibt es eine Fülle von Nebenquests, die weit mehr sind als bloße Sammelaufgaben. Viele dieser Aufträge erzählen eigene kleine Geschichten und konfrontieren den Spieler mit moralischen Dilemmata. Soll man einen Werwolf töten, der Menschen angegriffen hat, oder ihm helfen, wenn man erfährt, dass er verflucht wurde? Unterstützt man die unterdrückten Nicht-Menschen oder die menschlichen Ordnungskräfte?
Das Besondere ist, dass viele Entscheidungen nicht unmittelbar ihre Auswirkungen zeigen. Manchmal erfährt man erst Stunden später, welche Konsequenzen eine scheinbar nebensächliche Wahl hatte. Das verleiht dem Spiel eine bemerkenswerte Tiefe und sorgt für echten Wiederspielwert. Es gibt verschiedene Enden und zahlreiche Variationen im Spielverlauf, je nachdem welchen Weg man einschlägt.
Allerdings hat das Spiel auch seine Schwächen. Die Steuerung, besonders im Kampf, kann frustrierend sein. Geralt bewegt sich manchmal nicht so präzise, wie man es gerne hätte, und die Kameraführung in engen Räumen ist gelegentlich problematisch. Das Interface wirkt stellenweise überladen und nicht besonders intuitiv. Gerade zu Beginn kann die Fülle an Informationen, Systemen und Möglichkeiten überwältigend sein.
Ein Rollenspiel für Geduldige
The Witcher richtet sich klar an ein erwachsenes Publikum. Die düstere Atmosphäre, die moralisch komplexen Themen und auch die explizite Darstellung von Gewalt und Sexualität machen deutlich, dass hier keine familienfreundliche Fantasy-Geschichte erzählt wird. Das Spiel nimmt sich Zeit für seine Geschichte und erwartet vom Spieler die Bereitschaft, sich auf die Welt und ihre Mechaniken einzulassen.
Die Spielzeit für einen Durchgang liegt bei etwa 40 bis 50 Stunden, wenn man die meisten Nebenquests mitnimmt. Wer wirklich alles sehen möchte, kann durchaus 60 Stunden und mehr investieren. Dabei bleibt die Qualität der Inhalte größtenteils hoch, auch wenn sich gegen Ende einige Aufgaben etwas wiederholen.
Fazit zu The Witcher
CD Projekt RED ist mit The Witcher ein beachtliches Debüt gelungen. Das Action-Rollenspiel überzeugt durch seine dichte Atmosphäre, die moralisch ambivalente Story und das ungewöhnliche Kampfsystem. Die Verbindung aus Schwertkampf, Magie und Alchemie bietet taktische Tiefe, auch wenn die Steuerung gelegentlich ihre Schwächen zeigt. Besonders hervorzuheben ist das Entscheidungssystem mit seinen weitreichenden Konsequenzen, das dem Genre neue Impulse gibt.
Grafisch bewegt sich der Titel auf hohem Niveau und schafft es, eine glaubwürdige mittelalterliche Fantasy-Welt zu erschaffen. Der Soundtrack unterstreicht die düstere Grundstimmung perfekt und die deutsche Lokalisation ist gelungen, wenn auch nicht fehlerfrei.
Wer bereit ist, sich auf die komplexen Systeme einzulassen und mit den Steuerungsmacken leben kann, bekommt ein außergewöhnliches Rollenspiel geboten, das sich deutlich von der Konkurrenz abhebt. The Witcher ist kein Spiel für zwischendurch, sondern ein anspruchsvolles, erwachsenes RPG-Erlebnis, das Geduld und Hingabe belohnt. Fans von düsterer Fantasy und moralisch komplexen Geschichten sollten unbedingt einen Blick riskieren. CD Projekt RED hat hier den Grundstein für etwas Großes gelegt – man darf gespannt sein, was das polnische Studio als Nächstes aus dem Hut zaubert.
Bewertung: 8/10
Pro:
- Dichte, moralisch ambivalente Atmosphäre
- Entscheidungen mit echten Konsequenzen
- Umfangreiches Alchemie-System
- Gelungene Adaption der Buchvorlage
- Stimmungsvoller Soundtrack
Contra:
- Gewöhnungsbedürftige Steuerung
- Teilweise hakelige Kämpfe
- Überladenes Interface
- Gelegentliche technische Schwächen