Mit InFAMOUS: Second Son präsentiert uns Sucker Punch Productions den ersten großen Exklusivtitel für Sonys neue PlayStation 4. Nach zwei erfolgreichen Teilen auf der PlayStation 3 rund um Cole MacGrath – inFAMOUS und inFAMOUS 2 – wagt das Studio einen kompletten Neuanfang mit frischem Protagonisten und einer völlig anderen Stadt als Schauplatz. Die große Frage: Kann der Neustart an die Erfolge der Vorgänger anknüpfen und gleichzeitig die Leistungsfähigkeit der Next-Gen-Konsole unter Beweis stellen?
Seattle unter dem Regime der D.U.P.
Wir schreiben das Jahr 2016, sieben Jahre nach den Ereignissen von inFAMOUS 2. Die Welt hat sich verändert, seit die Existenz von Bio-Terroristen – Menschen mit übermenschlichen Fähigkeiten, im Volksmund „Conduits“ genannt – öffentlich bekannt wurde. Die Regierung hat mit dem Department of Unified Protection, kurz D.U.P., eine Spezialeinheit ins Leben gerufen, deren einziges Ziel es ist, diese Bedrohung zu eliminieren. An der Spitze steht Brooke Augustine, eine eiskalte Frau, die selbst über Conduit-Fähigkeiten verfügt und ihre Machtposition gnadenlos ausnutzt. Seattle wird praktisch zur Sperrzone, überall patrouillieren D.U.P.-Truppen und die Bürgerrechte wurden massiv eingeschränkt – angeblich zum Schutz der Bevölkerung.
In diese beklemmende Atmosphäre gerät der 24-jährige Delsin Rowe, ein rebellischer Graffiti-Künstler aus dem nahe gelegenen Reservat der Akomish. Delsin ist ein Sprayer, ein Querdenker, einer der sich nicht gerne etwas vorschreiben lässt und der Autorität grundsätzlich kritisch gegenübersteht. Als ein Gefangenentransport der D.U.P. in der Nähe verunglückt und Delsin einem der geflohenen Conduits hilft, macht er eine schockierende Entdeckung: Er selbst besitzt eine außergewöhnliche Fähigkeit. Durch bloße Berührung kann er die Kräfte anderer Conduits kopieren und für sich nutzen. Diese Begegnung bleibt nicht unbemerkt. Augustine erscheint persönlich, um die Situation zu „bereinigen“ und foltert dabei Delsins Stamm, darunter auch seinen Bruder Reggie, einen Polizisten. Um die Menschen zu retten, die ihm am Herzen liegen, muss Delsin nach Seattle reisen, weitere Kräfte erlangen und sich Augustine stellen.
Die Geschichte ist solide erzählt, auch wenn sie nicht ganz die emotionale Tiefe der Vorgänger erreicht. Delsin ist als Protagonist sympathisch und deutlich lockerer als der grimmige Cole MacGrath. Sein Verhältnis zu seinem Bruder Reggie bildet das emotionale Herzstück der Story und liefert einige wirklich berührende Momente. Die Beziehung zwischen den beiden wirkt authentisch, was besonders den hervorragenden Sprechern Troy Baker (Delsin) und Travis Willingham (Reggie) zu verdanken ist. Augustine funktioniert als klassische Antagonistin gut, hätte aber durchaus etwas mehr Charaktertiefe vertragen können.
Vier Kräfte, zahllose Möglichkeiten
Das Gameplay-Konzept der InFAMOUS-Reihe wurde beibehalten und clever erweitert. Statt wie Cole nur eine Kernfähigkeit zu besitzen, kann Delsin im Spielverlauf vier verschiedene Kräfte erlangen: Rauch, Neon, Video und Beton. Jede dieser Fähigkeiten spielt sich fundamental unterschiedlich und bringt ihre eigenen Vor- und Nachteile mit sich.
Die Rauch-Kraft ist Delsins erste erworbene Fähigkeit und bildet das Fundament für den Rest des Spiels. Man schießt Rauchgeschosse auf Gegner, kann durch Lüftungsschächte teleportieren und entfesselt verheerende Flächenangriffe. Das Ganze fühlt sich roher und aggressiver an als Coles elektrische Fähigkeiten. Neon hingegen ist präziser und schneller – man bewegt sich mit Lichtgeschwindigkeit, schießt lasergenau auf Feinde und kann sogar Wände hochlaufen. Video-Kräfte ermöglichen es, Gegner mit Illusionen zu täuschen, sie mit fliegenden Schwertern anzugreifen oder sich unsichtbar zu machen. Die erst spät verfügbare Beton-Kraft schließlich ist die brutalste Option, langsam, aber zerstörerisch.
Die Abwechslung, die diese vier Kräfte bieten, ist erfrischend. Man wechselt regelmäßig zwischen ihnen und passt seine Strategie an die jeweilige Situation an. Allerdings gibt es einen Haken: Man kann nur eine Kraft gleichzeitig nutzen und muss die entsprechende Energiequelle finden, um zwischen ihnen zu wechseln. Das bedeutet, man saugt Rauch aus Schornsteinen, Neon aus Leuchtreklamen, Video aus Fernsehern und Beton aus, nun ja, Beton. Dieser Wechsel funktioniert problemlos, kann im Kampfgetümmel aber manchmal etwas umständlich sein.
Die Steuerung ist flüssig und intuitiv. Man spürt förmlich die Macht, die durch Delsins Hände fließt. Die Bewegungsfreiheit ist enorm – man klettert Gebäude hinauf, gleitet über Dächer, schießt durch Lüftungsschächte und springt von Hochhäusern. Selten hat sich ein Superhelden-Spiel so befreiend angefühlt. Das Parkour-System ist im Vergleich zu den Vorgängern deutlich geschmeidiger geworden. Delsin bewegt sich fließend durch die Umgebung, auch wenn gelegentlich die Kameraführung in engen Gassen etwas zickig werden kann.
Gut oder Böse – Karma bestimmt den Weg
Wie schon in den Vorgängern spielt das Karma-System eine zentrale Rolle. Eure Entscheidungen beeinflussen nicht nur die Story, sondern auch Delsins verfügbare Fähigkeiten. Spielt man als Held, erhält man defensive und präzisere Angriffe, die Zivilisten schonen. Wählt man den Weg des Schurken, schaltet man zerstörerische und rücksichtslose Attacken frei. Das System ist binär – gut oder böse, ohne Graustufen. Das mag zunächst etwas simpel wirken, sorgt aber für klare Unterschiede in den Fähigkeiten und erhöht den Wiederspielwert.
Die moralischen Entscheidungen selbst sind teilweise etwas vorhersehbar. Oft reduzieren sie sich auf „Rette die Zivilisten“ oder „Ignoriere sie und verfolge den Feind“. Einige Schlüsselmomente der Story erfordern jedoch tiefgreifendere Entscheidungen, die tatsächlich zum Nachdenken anregen. Auch das Verhalten im freien Spiel zählt: Erledigt man D.U.P.-Truppen ohne Kollateralschäden? Oder sprengt man einfach alles in die Luft? Die Konsequenzen spiegeln sich nicht nur in den Fähigkeiten wider, sondern auch darin, wie die Bevölkerung auf Delsin reagiert. Als Held wird man bejubelt, als Schurke gefürchtet und beschimpft.
Seattle erwacht zum Leben
Die Darstellung von Seattle ist schlichtweg atemberaubend. Sucker Punch hat die Stadt liebevoll nachgebildet, inklusive bekannter Wahrzeichen wie der Space Needle. Die Straßen sind belebt, Menschen gehen ihrem Alltag nach, Autos fahren durch die City und überall sieht man die Präsenz der D.U.P. Die Stadt fühlt sich lebendig an, auch wenn sie nicht ganz die Dichte einer echten Metropole erreicht. Im Vergleich zu Empire City und New Marais aus den Vorgängern ist Seattle deutlich bunter und vielfältiger gestaltet.
Was wirklich beeindruckt, ist die technische Umsetzung. InFAMOUS: Second Son läuft in flüssigen 30 Bildern pro Sekunde und das nahezu ohne Einbrüche, selbst wenn auf dem Bildschirm das pure Chaos herrscht. Die Partikeleffekte sind schlicht grandios – Rauch waberte realistisch, Neon-Licht reflektiert auf nassen Straßen, Funken sprühen, Glas zersplittert in tausend Teile. Hier zeigt die PlayStation 4 eindrucksvoll, wozu sie in der Lage ist. Die Beleuchtung und Schatten sind erstklassig, besonders bei Nacht entfaltet Seattle seine volle Pracht. Auch die Gesichtsanimationen sind für einen Launch-Titel beachtlich, wenn auch nicht perfekt. Gelegentlich wirken Mimiken in Zwischensequenzen etwas hölzern, aber das ist auf hohem Niveau gemeckert.
Die Ladezeiten sind erfreulich kurz. Man startet das Spiel, und innerhalb weniger Sekunden steht man in Seattle. Schnellreisepunkte laden nahezu augenblicklich. Das ist für eine Open-World durchaus bemerkenswert und trägt zum flüssigen Spielfluss bei.
![[Review] InFAMOUS: Second Son 2 YouTube player](https://i.ytimg.com/vi/YuoaTagkgOI/maxresdefault.jpg)
Sound und Atmosphäre
Akustisch macht InFAMOUS: Second Son ebenfalls eine gute Figur. Der Soundtrack von Nathan Johnson und Marc Canham untermalt die Spielgeschehen angenehm unauffällig, ohne dabei belanglos zu wirken. Gerade in den emotionaleren Momenten kommt die Musik zur Geltung und verstärkt die Wirkung der Szenen. Die Action-Passagen werden von treibenden Rhythmen begleitet, die das Tempo perfekt aufgreifen.
Die Soundeffekte sind satt und kraftvoll. Jede Kraft klingt einzigartig – das Zischen von Rauch, das Sirren von Neon, das elektronische Knistern der Video-Kräfte. Die D.U.P.-Soldaten kommunizieren über Funk, Schüsse knallen durch die Straßen Seattles, und im Hintergrund hört man den alltäglichen Stadtlärm. All das trägt zu einer dichten Atmosphäre bei.
Die deutsche Synchronisation ist ordentlich gelungen, wenn auch nicht überragend. Wer die englische Originalvertonung bevorzugt, sollte definitiv darauf zurückgreifen. Troy Baker liefert als Delsin eine charismatische Performance ab, die der Figur Leben einhaucht. Die restliche englische Besetzung steht dem in nichts nach.
Nebenaktivitäten und Umfang
Seattle bietet eine Reihe von Nebenaktivitäten, um die Spielzeit zu verlängern. Man kann D.U.P.-Kontrollpunkte erobern, versteckte Blast Shards sammeln (die eure Kräfte verbessern), Drohnen abschießen, geheime Agenten aufspüren und vieles mehr. Das bekannte Graffiti-Sprayen kehrt zurück, diesmal allerdings interaktiv: Man nutzt den DualShock 4-Controller wie eine Sprühdose und bewegt ihn entsprechend. Das ist eine nette Spielerei, die den neuen Controller gut zur Geltung bringt, auch wenn der Reiz nach ein paar Mal nachlässt.
Die Nebenaufgaben sind solide, aber nichts Revolutionäres. Man kennt dieses Prinzip aus unzähligen Open-World-Titeln: Gebiete von feindlicher Präsenz befreien, Sammelobjekte finden, kleine Missionen erfüllen. Das macht durchaus Spaß, wird aber mit der Zeit etwas repetitiv. Die Hauptstory selbst ist mit etwa 10 bis 12 Stunden überschaubar. Wer alle Nebenaktivitäten erledigen und beide Karma-Pfade durchspielen möchte, kommt auf etwa 25 bis 30 Stunden Spielzeit. Das ist für ein Action-Adventure dieser Art angemessen, hätte aber durchaus etwas umfangreicher ausfallen können.
Ein kleiner Kritikpunkt: Die Gegnervielfalt ist begrenzt. Man kämpft fast ausschließlich gegen D.U.P.-Truppen, die in verschiedenen Varianten auftreten – einfache Soldaten, schwer gepanzerte Einheiten, Scharfschützen, Drohnen. Das ist in Ordnung, aber etwas mehr Abwechslung wäre wünschenswert gewesen. Besonders gegen Ende hin wiederholen sich die Kämpfe merklich.
Technische Finesse mit kleinen Schwächen
Technisch ist InFAMOUS: Second Son ein echter Hingucker und ein würdiger Showcase für die PlayStation 4. Die Grafik ist beeindruckend, die Performance stabil, die Ladezeiten kurz. Dennoch gibt es kleine Makel. Gelegentlich kommt es zu Clipping-Fehlern, NPCs verhalten sich manchmal merkwürdig und sehr selten kann es vorkommen, dass man in der Geometrie stecken bleibt. Das sind jedoch Kleinigkeiten, die das Spielerlebnis kaum trüben.
Die Nutzung des DualShock 4 ist gelungen. Das Touchpad wird für das Graffiti-Sprayen und zum Öffnen von Türen genutzt, der Lichtbalken wechselt die Farbe je nach gewählter Kraft (orange für Rauch, rosa für Neon, usw.), und die Bewegungssteuerung kommt beim Sprayen zum Einsatz. Das alles fühlt sich nicht aufgesetzt an, sondern organisch in das Gameplay integriert.
Fazit zu InFAMOUS: Second Son
Sucker Punch hat mit InFAMOUS: Second Son einen würdigen Nachfolger geschaffen, der die Serie erfolgreich auf die PlayStation 4 bringt. Das Spiel glänzt mit einer technisch beeindruckenden Präsentation, abwechslungsreichen Superkräften und einem sympathischen Protagonisten. Seattle ist eine lebendige, wunderschön gestaltete Spielwelt, die Spaß macht zu erkunden. Das Gameplay ist flüssig, macht Laune und vermittelt ein echtes Superhelden-Gefühl.
Gleichzeitig gibt es Bereiche, in denen das Spiel hinter seinem Potenzial zurückbleibt. Die Story ist zwar unterhaltsam, erreicht aber nicht ganz die Tiefe der Vorgänger. Das Karma-System ist etwas zu simpel gestrickt, die Gegnervielfalt begrenzt und die Nebenaktivitäten werden mit der Zeit repetitiv. Auch der Umfang hätte etwas größer ausfallen können.
Trotz dieser Kritikpunkte ist InFAMOUS: Second Son ein rundum gelungenes Action-Adventure, das PlayStation 4-Besitzer definitiv auf dem Schirm haben sollten. Es ist zwar kein perfektes Spiel, aber ein verdammt gutes. Wer Superhelden-Spiele mag, Open-World-Action liebt oder einfach sehen möchte, was die neue Konsolengeneration zu bieten hat, macht hier garantiert nichts falsch. Sucker Punch hat gezeigt, dass sie ihr Handwerk verstehen und die InFAMOUS-Reihe hat auch auf der PlayStation 4 ihre Daseinsberechtigung.
Jetzt bleibt nur die Frage: Held oder Schurke? Die Wahl liegt bei euch.