Die ukrainische Entwicklerschmiede Frogwares hat in den letzten Jahren mit ihren Sherlock Holmes-Adaptionen eine bemerkenswerte Entwicklung durchgemacht. Nach dem überragenden „Sherlock Holmes: Chapter One“ im Jahr 2021, das uns einen jungen Holmes auf der Mittelmeerinsel Cordona präsentierte, stand das Studio vor einer besonderen Herausforderung. Anstatt ein komplett neues Chapter Two zu entwickeln, entschied man sich aufgrund der kriegsbedingten Umstände in der Ukraine für ein anderes, aber nicht minder ambitioniertes Projekt: die komplette Neuinterpretation des eigenen Klassikers „The Awakened“ aus dem Jahr 2007. Was dabei herausgekommen ist, ist weit mehr als ein simples Remake – es ist eine meisterhafte Verschmelzung von Arthur Conan Doyles legendärem Detektiv mit H.P. Lovecrafts kosmischem Horror, eingebettet in die moderne Spielmechanik von Chapter One.
Die Geschichte – Wenn Holmes auf Cthulhu trifft
Sherlock Holmes: The Awakened setzt wenige Monate nach den Ereignissen von Chapter One an und präsentiert uns einen Holmes, der zwar etwas gereifter, aber noch immer jung und formbar ist. Was mit einem scheinbar harmlosen Fall beginnt – Holmes‘ Tageszeitung ist verschwunden – entwickelt sich schnell zu einer der verstörendsten Ermittlungen seiner noch jungen Laufbahn. An seiner Seite steht erstmals der „echte“ Dr. John Watson, nachdem der „Jon“ aus Chapter One lediglich eine Projektion von Holmes‘ angeschlagener Psyche war.
Die Geschichte führt uns durch vier atmosphärisch dichte Hauptschauplätze: das nebelverhangene viktorianische London, eine bedrückende Schweizer Psychiatrieanstalt namens Edelweiss, die mysteriösen Sümpfe von New Orleans und die kargen schottischen Highlands. Jeder Ort ist dabei nicht nur Kulisse, sondern integraler Bestandteil einer Geschichte, die Holmes an die Grenzen seiner geistigen Belastbarkeit führt. Hier wird deutlich, dass Frogwares nicht nur ein Remake geschaffen hat, sondern eine eigenständige Interpretation, die perfekt als Brücke zwischen Chapter One und den kommenden Abenteuern fungiert.
Besonders beeindruckend ist die Art, wie die Lovecraft’schen Elemente in die Holmes’sche Welt integriert wurden. Es ist kein plumpes Aufeinanderprallen zweier Welten, sondern eine organische Verschmelzung, die beide Mythen respektiert. Die Cthulhu-Mythologie wird nicht als übernatürliche Realität präsentiert, sondern als verstörende Möglichkeit, die Holmes‘ rationales Weltbild erschüttert und seine bereits angeschlagene Psyche weiter belastet.
Grafik – Cinematische Präsentation mit Luft nach oben
Visuell präsentiert sich The Awakened als durchaus ansehnlicher Titel, der jedoch nicht ganz an die optischen Höhepunkte anderer aktueller Spiele heranreicht. Die Unreal Engine 4 wird solide genutzt, um atmosphärische Szenerien zu schaffen, die perfekt zur jeweiligen Stimmung der Geschichte passen. Besonders die Cutscenes wissen zu überzeugen und verleihen dem Spiel eine wahrhaft cinematische Qualität, die an die besten Momente von Chapter One erinnert.
Die Charaktermodelle sind größtenteils gelungen, wobei Holmes und Watson überzeugend dargestellt werden. Alex Jordan, der bereits in Chapter One als Sprecher von Holmes brillierte, hat hier seine perfekte visuelle Entsprechung gefunden. Einige Texturprobleme bei Haaren und gelegentlich patchy wirkende Close-ups trüben das Gesamtbild leicht, fallen aber nicht gravierend ins Gewicht. Die verschiedenen Schauplätze wurden mit erkennbarer Liebe zum Detail gestaltet, wobei besonders die düsteren Korridore der Edelweiss-Anstalt und die nebelverhangenen Docks von London atmosphärisch punkten können.
Ein Kritikpunkt bleibt die teils etwas flach wirkende Umgebungsgestaltung, die trotz maximaler Einstellungen nicht immer zeitgemäß erscheint. Ray-Tracing-Effekte, die der Beleuchtung und den Schatten zusätzliche Tiefe verleihen würden, sucht man leider vergebens. Dennoch schafft es das Spiel, eine stimmige Atmosphäre zu kreieren, die die jeweiligen Schauplätze zum Leben erweckt.
Sound – Akustische Meisterklasse
Wo The Awakened wirklich brilliert, ist die akustische Umsetzung. Die Soundkulisse trägt maßgeblich zur dichten Atmosphäre bei und versetzt den Spieler unmittelbar in das viktorianische Setting. Besonders bemerkenswert ist die herausragende Sprachausgabe: Alex Jordan liefert als Holmes erneut eine Glanzleistung ab, die die Entwicklung des Charakters seit Chapter One perfekt transportiert. Seine Darstellung eines Holmes, der zwischen brillantem Verstand und fragiler Psyche balanciert, ist schlichtweg meisterhaft.
Dr. Watson wird ebenfalls überzeugend vertont und fungiert als emotionaler Anker für Holmes wie auch für den Spieler. Die Chemie zwischen beiden Charakteren ist spürbar und macht die Dialoge zu einem Vergnügen. Auch die Nebenrollen sind durchweg professionell umgesetzt, wobei sich das internationale Ensemble nahtlos in die jeweiligen Szenarien einfügt.
Der Soundtrack untermalt die verschiedenen Stimmungen perfekt, ohne dabei aufdringlich zu werden. Von den melancholischen Melodien des regenverhangenen London bis hin zu den verstörenden Klängen der Anstalt – die Musik trägt erheblich zur Immersion bei. Umgebungsgeräusche und Effekte runden das akustische Gesamtbild ab und schaffen eine glaubwürdige Welt, in die man gerne eintaucht.
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Gameplay – Verfeinerte Mechaniken mit kleinen Abstrichen
Wer bereits Chapter One gespielt hat, wird sich schnell in The Awakened zurechtfinden. Die grundlegenden Spielmechaniken wurden übernommen und stellenweise verfeinert. Die Kriminalszenen-Rekonstruktion, eine der stärksten Mechaniken aus Chapter One, wurde benutzerfreundlicher gestaltet. Statt frustrierender Ratearbeit zeigt das Spiel nun klarer an, wie viele Elemente in einer Szene zu rekonstruieren sind, und markiert falsch platzierte Ereignisse, anstatt den Spieler ins Leere laufen zu lassen.
Das Mind Palace-System, das Herzstück der Holmes’schen Deduktion, wurde allerdings vereinfacht – möglicherweise zu sehr. Während frühere Spiele der Serie komplexe Gedankenketten verlangten, bei denen der Spieler verschiedene Hinweise miteinander verknüpfen musste, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, ist das System in The Awakened eher linear geworden. Die Hinweise sind nun in Kategorien wie „Beobachtungen“, „Aussagen“ und „Akten“ unterteilt, und das Spiel gibt vor, wie viele Elemente für eine Schlussfolgerung benötigt werden. Dies macht die Deduktion zwar zugänglicher, nimmt aber auch etwas von der intellektuellen Herausforderung.
Positiv hervorzuheben ist die Entfernung der Kampfmechaniken aus Chapter One, die dort eher störend wirkten. The Awakened konzentriert sich voll und ganz auf die Ermittlungsarbeit und profitiert davon erheblich. Neu hinzugekommen ist ein „Confront“-System, bei dem Holmes oder Watson Verdächtige mit spezifischen Beweisen konfrontieren müssen. Diese Mechanik funktioniert gut und trägt zur Spannung bei, auch wenn sie nicht ganz das Niveau der besten Interrogations-Szenen aus L.A. Noire erreicht.
Ein weiteres Highlight ist die Möglichkeit, gelegentlich Watson zu steuern. Diese Sequenzen bringen eine willkommene Abwechslung und zeigen Watson als eigenständigen Charakter mit eigenen Stärken. Leider sind diese Passagen zu selten und zu kurz, um ihr volles Potenzial zu entfalten.
Die Spielzeit beträgt etwa 12-15 Stunden, je nach Gründlichkeit beim Erkunden der Nebenaufgaben. Die acht Kapitel sind dabei unterschiedlich lang, wobei einige deutlich intensiver sind als andere. Das Spiel bietet verschiedene Schwierigkeitsgrade, wobei der „Mycroft“-Modus für Genre-Veteranen gedacht ist, während „Watson“ auch Einsteigern einen komfortablen Einstieg ermöglicht.
Technische Umsetzung – Solid mit Einschränkungen
Technisch präsentiert sich The Awakened als solider, wenn auch nicht perfekter Titel. Die Systemanforderungen sind moderat – bereits eine GTX 770 reicht für spielbare Frameraten bei 1080p, während eine RX 580 konstante 60fps bei höchsten Einstellungen ermöglicht. Das Spiel unterstützt DLSS 2, verzichtet aber auf AMD FSR 2 oder Intel XeSS, was bei der multiplatformen Ausrichtung bedauerlich ist.
Störend sind gelegentlich auftretende Shader-Compilation-Stutters, besonders beim ersten Betreten neuer Gebiete. Diese sind zwar nicht spielbrechend, unterbrechen aber den Spielfluss. Die Ladezeiten sind dafür erfreulich kurz, selbst bei Wechseln zwischen größeren Arealen.
Die Benutzeroberfläche wurde gegenüber Chapter One überarbeitet und ist nun intuitiver zu bedienen. Besonders das Evidence-System profitiert von den Verbesserungen und macht das Verwalten der gesammelten Hinweise deutlich komfortabler.
Der Entwicklungskontext – Gaming unter Kriegsbedingungen
Es wäre unfair, The Awakened zu bewerten, ohne die außergewöhnlichen Umstände seiner Entstehung zu berücksichtigen. Frogwares entwickelte das Spiel unter den extremen Bedingungen des Ukraine-Krieges, mit ständigen Stromausfällen, Raketenangriffen und der Notwendigkeit, Teammitglieder zu evakuieren. Dass unter diesen Umständen überhaupt ein spielbares Produkt entstehen konnte, verdient höchsten Respekt.
Diese Umstände erklären auch, warum The Awakened in manchen Bereichen weniger ambitioniert ist als Chapter One. Die ursprünglich für Februar 2023 geplante Veröffentlichung musste auf April verschoben werden, und dennoch schaffte es das Team, ein kohärentes und unterhaltsames Spiel abzuliefern. Dieser Kontext schmälert keineswegs die Qualität des Endprodukts, unterstreicht aber die bemerkenswerte Leistung der Entwickler.
Fazit zu Sherlock Holmes: The Awakened
Frogwares ist mit The Awakened ein bemerkenswertes Kunststück gelungen: Ein Remake, das sich wie ein eigenständiges Spiel anfühlt und gleichzeitig eine sinnvolle Brücke zwischen Chapter One und zukünftigen Abenteuern schlägt. Die Verschmelzung von Holmes’scher Deduktion mit Lovecraft’schem Horror funktioniert überraschend gut und schafft eine einzigartige Atmosphäre, die unter die Haut geht.
Ja, das Spiel hat seine Schwächen. Die vereinfachten Deduktionsmechaniken werden Genre-Veteranen möglicherweise enttäuschen, und technisch könnte The Awakened durchaus polierter sein. Doch diese Kritikpunkte verblassen angesichts der atmosphärischen Dichte, der hervorragenden Charakterarbeit und der geschickten Erzählweise.
Für Fans der Sherlock Holmes-Serie ist The Awakened ein Muss, das die Entwicklung des jungen Holmes konsequent vorantreibt. Aber auch Neueinsteiger finden hier einen ausgezeichneten Einstiegspunkt, der zeigt, wozu narrative Adventures im Jahr 2023 imstande sind. In Anbetracht der Entstehungsumstände ist The Awakened nicht nur ein gutes Spiel, sondern auch ein Zeugnis für die Hingabe und Professionalität eines Entwicklerstudios, das sich nicht von äußeren Umständen brechen ließ.
Bewertung: 8/10
Sherlock Holmes: The Awakened ist ein atmosphärisch dichtes Detektiv-Adventure, das trotz kleiner Schwächen durch starke Charakterarbeit und die gelungene Verschmelzung zweier Literatur-Mythen überzeugt. Ein würdiger Nachfolger zu Chapter One und ein hoffnungsvoller Ausblick auf die Zukunft der Serie.



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